Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
mich. Niemand sagte was. Klaus verfuhr sich offenbar und wir gurkten kreuz und quer in Berlin rum. Ich dachte: Jetzt sind die schon zu blöde, den Weg nach Kreuzberg zu finden.
Als wir bei einer Tankstelle hielten, sagte ich meiner Mutter, dass ich Hunger hätte und fragte, ob sie mir drei Bountys kaufen könne. Sie stieg aus und kaufte mir drei Bountys.
Nach dem zweiten Bounty wurde mir schlecht. Klaus musste anhalten, damit ich mich übergeben konnte. Wir fuhren auf die Nord-Autobahn und da wusste ich, dass es woanders hinging. Ich dachte, in ein Heim und dass ich da bald wieder abhauen würde. Dann sah ich das Schild »Flughafen Tegel« und dachte: Das ist ja wohl das Schärfste. Die wollen dich aus Berlin abschieben.
Wir stiegen am Flughafen aus. Meine Mutter hatte mich sofort wieder fest im Griff. Da sagte ich zum zweiten Mal seit unserem Wiedersehen was: »Würdest du mich jetzt bitte loslassen.« Ich sagte das ganz langsam und betonte jedes Wort. Sie ließ mich dann auch los, blieb aber immer auf Tuchfühlung neben mir. Der Klaus machte die Nachhut, auch immer auf der Lauer. Ich war ziemlich willenlos. Sollten sie nur irgendwas machen. Mit mir war doch nichts zu machen. Das war meine Stimmung. Als meine Mutter mich dann zu einem Ausgang führte, über dem Hamburg stand, habe ich mich doch mal umgesehen, ob es eine Chance zum Abhauen gab. Aber ich war sowieso zu willenlos, um abzuhauen.
Hamburg, das war ein echter Hammer. In einem Dorf so fünfzig Kilometer von Hamburg wohnten eine Oma und eine Tante mit einem Onkel und ein Cousin von mir. Die allerletzten Spießer in meinen Augen. Ein Haus so ordentlich, dass es die Hölle war. Kein Staubkorn. Ich war in dem Haushalt mal stundenlang barfuß gelaufen und abends waren meine Füße noch so sauber, dass ich sie nicht zu waschen brauchte.
Im Flugzeug tat ich so, als ob ich meinen Gruselroman lesen würde. Ich schaffte auch ein paar Seiten. Meine Mutter war noch immer stumm wie ein Fisch. Sie hatte mir noch nicht mal mitgeteilt, wo es hinging.
Als die Stewardess ihren Spruch aufsagte, sie hoffe, dass wir einen angenehmen Flug gehabt hätten, merkte ich, dass meine Mutter weinte. Dann fing sie irrsinnig schnell an zu reden: Sie wolle noch immer nur mein Bestes. Und sie habe neulich geträumt, dass ich tot auf einem Klo gelegen habe, die Beine ganz verdreht und überall Blut um mich rum. Ein Dealer habe mich erschlagen und sie hätte mich identifizieren müssen.
Ich habe immer geglaubt, dass meine Mutter parapsychologische Fähigkeiten hat. Wenn sie abends mal sagte: »Kind, bleib hier, ich habe ein ungutes Gefühl«, dann bin ich prompt in eine Razzia reingekommen oder wurde abgelinkt oder es gab sonst welchen Terror. Ich musste jetzt an Piko denken, dass wir ihn abgelinkt hatten, und an seine Zuhälterfreunde. Ich dachte, vielleicht hat mir meine Mutter tatsächlich das Leben gerettet. Weiter dachte ich nicht. Ich wollte nicht weiter denken. Seit meinem missglückten Goldenen Schuss wollte ich überhaupt nicht mehr nachdenken.
Auf dem Hamburger Flughafen ging ich mit meiner Mutter und meiner Tante, die uns abholte, noch ins Restaurant. Meine Mutter musste ja gleich mit dem nächsten Flieger zurück. Ich bestellte eine Florida-Boy. Hatten sie nicht in dem scheißfeinen Laden. Ich dachte, was ist Hamburg nur für ein Kaff, dass es da nicht mal Florida-Boy gibt. Ich trank überhaupt nichts, obwohl ich einen tierischen Durst hatte.
Gemeinsam laberten dann meine Mutter und meine Tante auf mich ein. In einer halben Stunde verplanten sie mein ganzes zukünftiges Leben. Ich würde jetzt schön zur Schule gehen, neue Freunde finden, später eine Lehre machen, und wenn ich einen Beruf hätte, nach Berlin zurückkommen. So einfach war das also für die. Meine Mutter heulte wieder, als wir uns verabschiedeten. Ich kämpfte alle Gefühle nieder. Das war am 13. November 1977.
Christianes Mutter
Ich hatte mich den ganzen Tag unheimlich beherrschen müssen. Auf dem Rückflug nach Berlin heulte ich mir die Anspannung der letzten Wochen von der Seele. Ich war traurig und erleichtert zugleich. Traurig, weil ich Christiane weggeben musste. Erleichtert, weil ich sie endlich dem Heroin entrissen hatte.
Ich war mir endlich einmal sicher, das Richtige getan zu haben. Spätestens nach dem Fehlschlag der Narkonon-Therapie hatte ich erkannt, dass Christiane auf Dauer nur eine Überlebenschance hat, wenn sie dorthin kommt, wo es kein Heroin gibt. Als Christiane bei ihrem Vater
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