Wir Kinder von Bergen-Belsen
dem Mehl und dem Zucker kam gerade recht. Frau Pomstra war sehr gut darin, Kartoffeln gegen die zusätzlichen Karten einzutauschen, die wir von der Regierung bekamen. Jeden Morgen musste ich vier Kilo Kartoffeln schälen, und Frau Pomstra brachte mir bei, wie man sie sehr dünn schälte, um möglichst wenig Verlust zu haben.
Max ging täglich zum Hauptbahnhof und wartete dort von morgens früh bis zum späten Nachmittag. Er las die Listen der Namen der Menschen, die aus den deutschen Lagern zurückkehrten. Jeden Abend kam er traurig zurück, doch am nächsten Morgen zog er wieder los, in der Hoffnung, dass unser Vater oder unsere Mutter unter den Zurückkehrenden wären.
Dann, in der ersten Juliwoche, kam ich von einem Besuch bei einer Freundin nach Hause, und Frau Pomstra teilte mir mit, dass mein Vater an diesem Morgen am Hauptbahnhof angekommen sei. Der Arzt, der ihn untersucht hatte, hatte ihn in ein Krankenhaus eingewiesen. Frau Pomstra und ich liefen sofort zur Straßenbahn, um ihn zu besuchen. Sie erzählte mir, Max und Jackie hätten ihn am Bahnhof und später im Krankenhaus schon gesehen.
Eine Schwester brachte uns in das Zimmer, wo mein Vater im Bett lag, gestützt von einem Kissen. Ich rannte zu ihm und legte die Arme um ihn. Wie knochig er aussah. Tränen des Glücks standen ihm in den Augen, und alles, was er sagen konnte, war: »Wie groß du geworden bist, Hetty.« Wir weinten beide. Das Gefühl der Erleichterung, dass unsere Leidenszeit vorbei war, war zu viel für uns.
Als wir uns gefasst hatten, erzählte mein Vater, dass er, als er uns am 4. Dezember 1944 verlassen hatte, mit vierhundert Männern nach Sachsenhausen deportiert worden war. Doch nach ein paar Tagen waren er und ein anderer Mann von der Diamantengruppe getrennt worden. Er hatte Onkel Max geraten, sich freiwillig ihm anzuschließen, doch Onkel Max hatte es vorgezogen, bei der Diamantengruppe zu bleiben. Diese Entscheidung hatte sein Schicksal besiegelt, er war in Bergen-Belsen gestorben.
Mein Vater wurde in ein Lager in der Nähe von Berlin geschickt und arbeitete dort in der Siemens-Kabel-Fabrik.
Als die Front näher rückte, schickte die SS das ganze Lager auf einen Todesmarsch. Mein Vater musste bis Schwerin in Mecklenburg laufen, etwa zweihundertzwanzig Kilometer nordwestlich von Berlin.
Gleich zu Beginn des Todesmarschs hatte er Gerrie B. getroffen, einen jungen Mann, der vor unserer Deportation in Amsterdam bei uns angestellt gewesen war. Der Marsch forderte einen hohen Blutzoll unter den ausgehungerten Menschen. Wenn Gefangene nicht mehr laufen konnten oder auf die Straße fielen, wurden sie erbarmungslos von der SS erschossen.
Am Ende des zweiten Tages sagte mein Vater zu Gerrie: »Ich kann nicht weitergehen, ich bin am Ende. Ich werde aus der Reihe treten. Gerrie, bitte sage meiner Frau und meinen Kindern, dass ich sie liebe.«
»Nein, Herr Werkendam«, sagte Gerrie, »das tun Sie nicht. Denken Sie an Ihre Familie. Stützen Sie sich auf mich. Sie werden sehen, wir schaffen es beide.«
Gerrie überredete meinen Vater, gestützt auf ihn weiterzugehen. Dann fand er vor sich auf der Straße einen abgebrochenen Ast, hob ihn auf, und der Stock half ihm, den Marsch sieben lange Tage durchzuhalten, bis sie von der US-Armee befreit wurden.
Am dritten Juni war er mit Gerrie von Lüneburg nach Brüssel geflogen, etwa um zwölf Uhr mittags. Wir hatten uns also auf dem Flugplatz um ein paar Stunden verpasst. Eine Woche vor seiner Ankunft in Amsterdam hatte er sich in Brüssel mit seiner Nichte Doortje getroffen, die in Auschwitz gewesen und nach ihrer Rückkehr nach Amsterdam zuerst nach Brüssel gefahren war, weil sie hoffte, dort irgendwelche Familienmitglieder zu finden. Sie hatte ihm gesagt, dass seine drei Kinder wieder in Amsterdam waren.
»Und was ist mit meiner Frau?«, hatte er gefragt.
»Das weiß ich nicht«, sagte sie.
»Ist meine Frau tot?«, fragte er weiter.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
Von diesem Moment an hatte mein Vater keine Ruhe mehr, und er fuhr mit der ersten Transportmöglichkeit nach Amsterdam, um wieder mit uns vereint zu sein.
Er war ein sehr kranker Mann. Seine Beine waren von Ödemen geschwollen, doch nach ein paar Tagen im Krankenhaus hielten ihn keine zehn Pferde mehr, er kam nach Hause zu den Pomstras.
Da er nicht lange still sitzen konnte, überredete er Herrn
Pomstra, ihm ein Fahrrad zu besorgen, damit er Max zum Hauptbahnhof begleiten könne, um zu warten, ob meine Mutter mit
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