Wir Kinder von Bergen-Belsen
Soldaten mit gezogenen Bajonetten. Durch die Vorhänge konnten wir sehen, dass die tief erschrockenen und traumatisierten Menschen versuchten, ihre Würde zu bewahren. Ein Mann wandte sich an einen deutschen Soldaten. Er hielt ein Dokument in der Hand, ich nahm an, dass es sich um eine Befreiung von der Deportation handelte. Gestikulierend versuchte er den Soldaten zu überzeugen, ihn und seine Familie gehen zu lassen. Doch der Soldat warf nur einen Blick auf das kostbare Dokument, dann zerriss er es in kleine Fetzen. Geschlagen kehrte der Mann zurück in die Reihe, zu seiner Familie, ihm war klar, dass ihm jetzt niemand mehr helfen konnte.
Fünf Stunden lang standen die Menschen, junge und alte, ohne Nahrung oder Wasser dort, bis sie den Befehl bekamen, zum Amstelbahnhof zu gehen, von wo aus man sie mit dem Zug nach Westerbork bringen würde. In ganz Amsterdam fanden an diesem Tag Razzien statt, und nur wenigen jüdischen Familien wurde erlaubt, zu Hause zu bleiben. Wir gehörten dazu.
Im Jahr 1943 tauchten die Eltern meines Vaters unter, und ein Mann vom holländischen Widerstand kam gelegentlich zu uns und berichtete, wie es ihnen ging. Er brachte Briefe mit und Nachrichten über den Kriegsverlauf, von den Bewegungen der Alliierten und darüber, wie sie General Rommel in Afrika geschlagen hatten. Das gab uns neuen Mut, und Hoffnung flackerte auf, dass wir bald das Ende des Kriegs erleben würden.
Durch eine seltsame Laune des Schicksals war es meinem Vater noch immer erlaubt, in diesem ganzen Durcheinander weiter Handel zu treiben. Kurz nach der Besatzung durch die Deutschen war jedem Juden, der geschäftlich tätig war, befohlen worden, seine Firma registrieren zu lassen und einen Antrag auf Arbeitserlaubnis zu stellen. Damals war mein Vater ein angesehener Textilgroßhändler gewesen und seine großen Stände mit ausgezeichneten Stoffen waren auf den Amsterdamer Märkten berühmt. Nun hatte er zwei verschiedene Lizenzen beantragt, eine für die Märkte und eine andere für den Großhandel, die ihm schließlich gewährt wurden, nachdem ein Buchhalter und die Deutschen tagelang seine Bücher geprüft hatten. Die Deutschen waren in diesen Dingen übergenau und jedes Detail wurde aufgeschrieben. Eine Weile lang schien alles in Ordnung zu sein und das Geschäft lief wie immer. Doch dann kam der Befehl, dass jeder mit zwei Lizenzen eine davon zurückgeben müsse. Meine Mutter und mein Vater diskutierten tagelang darüber, welche von beiden sie behalten sollten. Mein Vater war für die
Großhandelslizenz, meine Mutter für die Marktlizenz. Schließlich setzte sie sich durch. Vater gab die Großhandelslizenz zurück und reichte die Marktlizenz ein, um sie erneuern zu lassen. Ein Monat später kam die Bestätigung und mein Vater führte seinen Handel fort.
Diejenigen, die sich für ihre Großhandelslizenz entschieden hatten, hatten nicht so viel Glück. Ihre Geschäfte wurden konfisziert, und das jüdische Bankhaus Lippmann-Rosenthal & Co, das die Deutschen völlig unter ihre Kontrolle gebracht hatten, übernahm die Geschäfte und das Kapital. Den glücklosen Besitzern wurden gerade mal dreißig Minuten Zeit gelassen, um ihre eigenen Geschäfte zu verlassen. Diesen Menschen blieb nichts. Sie hatten kein Geld, um Essen für ihre Familien zu kaufen, denn sie waren nun ohne Einkommen.
Viele dieser früher sehr wohlhabenden Menschen hatten plötzlich viel Zeit. Sie kamen nachmittags zu uns, und bald entstand ein Plan: Mein Vater würde mehr einkaufen, als er für sein eigenes Geschäft brauchte, und so ermöglichen, dass die mittellos gewordenen Menschen die zusätzlichen Waren an ihre eigenen Kunden verkauften. Natürlich musste man sehr vorsichtig sein, denn es bestand immer die Gefahr, denunziert und an die SS verraten zu werden.
Ein anderes Problem bestand darin, dass Textilmarken nötig waren, damit mein Vater zusätzliche Stoffe bei den Vertretern kaufen konnte. Hier kam ein Mann aus dem Widerstand ins Spiel. In den letzten Monaten hatten die Mitglieder des Untergrunds das Einwohnermeldeamt von Amsterdam überfallen und eine Menge Textilmarken in ihren Besitz gebracht. Sie brauchten dringend Geld und mein Vater kaufte ihnen die Marken ab. Viele Monate lang besorgte mein Vater auf diese Weise zusätzliche Waren.
Unser Dachboden wurde zu einem Warenlager, wo viele Stoffballen ordentlich in Regalen gestapelt waren. Dorthin zog ich mich damals morgens zurück, um mich auf meine Übergangsprüfung zur höheren
Weitere Kostenlose Bücher