Wir Kinder von Bergen-Belsen
Mutter sagte: »Sie sind hier, wir sollten lieber die Tür aufmachen.«
Von meinem Zimmer aus konnte ich in die Diele hinunter-schauen und sah, wie meine Mutter die Tür öffnete. Davor standen ein SS-Offizier und ein deutscher Soldat mit gezogenem Bajonett.
»Juden?«, fragte der Offizier.
Meine Mutter nickte.
»Pässe«, fuhr er sie an. »Schnell!«
Inzwischen war mein Vater schon mit den Pässen gekommen, sicher, dass der Stempel wieder seine wunderbare Wirkung ausüben werde. Zuversichtlich übergab er dem SS-Offizier die Papiere, dieser prüfte sie sorgfältig und ordnete dann an, dass wir uns alle fünf in der Diele aufzustellen hätten. Da standen wir nun alle in unseren Schlafanzügen, meine Mutter hatte sich fest in ihren rosafarbenen Morgenrock gewickelt, um nicht zu zittern.
Der SS-Offizier befahl dem Soldaten, uns zu bewachen, während er nachschauen wolle, ob nicht noch jemand im Haus sei. »Oh Gott«, beteten wir im Stillen. In der Verwirrung hatten wir vergessen, dass Moos, der Cousin meiner Mutter, und Sonja in unserer Wohnung waren. Moos lebte schon seit einem Jahr versteckt und war erst am Tag zuvor zu einem kurzen Besuch gekommen. Er besaß weder einen Pass noch sonst irgendwelche Papiere. Sonja war die Tochter einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters, und sie besaß auch die entsprechenden Papiere, um das zu beweisen. Während der SS-Offizier das Haus durchsuchte, hielten wir den Atem an. Wir konnten hören, wie er die Türen öffnete und sie dann wieder zuknallte. In der ganzen Zeit stand der Soldat mit gezogenem Bajonett vor uns. Der Offizier kam mit Sonja zurück. Er hatte sie im Hinterzimmer gefunden. Wir fragten uns alle, was mit Moos passiert war. Wo war er? Warum hatte ihn der SS-Offizier nicht gefunden? Mit den Augen gaben wir uns verstohlen ein Zeichen, aber es verblieb nicht viel Zeit, uns zu wundern.
»Ihre Papiere?«, fragte der SS-Offizier Sonja.
Sie händigte sie ihm aus.
»So, Sie sind also Halbjüdin. Und darf ich fragen, was Sie in diesem Haus machen? Ich nehme an, Ihnen ist bekannt, dass es verboten ist, über Nacht bei irgendjemandem zu bleiben?« Er hatte sich immer mehr in Rage geredet und seine Stimme überschlug sich förmlich: »Los, antworte!«
Wir erstarrten vor Schrecken und schauten Sonja und den Offizier an. Sonja war sehr blass, aber sie hielt den Kopf stolz erhoben und blickte dem Offizier direkt ins Gesicht. Leise sagte sie, sie habe uns am Tag besucht und abends, vor der Sperrstunde, habe sie einen Migräneanfall bekommen, und es sei ihr unmöglich gewesen, sicher nach Hause zu gelangen.
»Du lügst!«, schrie der Offizier. »Ich werde deinen Pass behalten, du wirst mit den anderen zum Bahnhof gebracht. Ein Ranghöherer wird sich mit dir befassen.«
Dann drehte er sich zu uns um und sagte: »Juden, ich gebe euch eine Stunde, um euch fertig zu machen.« Dem deutschen Soldaten befahl er, uns sorgfältig zu bewachen, bis er zurückkommen würde, um uns zum Bahnhof zu bringen.
Mama sagte, wir sollten uns anziehen. »Wir wissen nicht, wohin wir gehen, also zieht warme Sachen an. Los, Jungen, ich werde euch helfen.« Sie schob Max und Jackie vor sich her zu ihrem Zimmer. Aber eigentlich wollte sie herausfinden, was mit Moos war, weshalb ich Sonja und meinen Vater mit irgendetwas veranlasste, ihr nicht zu folgen. Mein Vater sah völlig niedergeschlagen aus.
»Papa, du solltest dich lieber anziehen, sonst holst du dir noch eine Erkältung, und wir müssen bald gehen«, sagte ich.
»Ja«, sagte er, »ich sollte mich lieber anziehen. Ich hoffe, sie haben einen Fehler gemacht. Vielleicht sind wir morgen früh schon wieder zu Hause. Ich kann es nicht verstehen, sie haben uns doch versprochen, dass wir nach Portugal gehen.«
Sonja und ich sagten nichts. Mama kam zurück, und wir konnten ihren Augen ansehen, dass mit Moos alles in Ordnung war. Sie zog uns alle in das große Schlafzimmer. Flüsternd erzählte sie uns, dass Moos sich, als die Deutschen an die Tür klopften, unter dem Bett hinter den Koffern versteckt hatte. Als der Offizier den Raum durchsuchte, war es für einen kurzen Moment gefährlich geworden, aber der hatte nicht unter das Bett geschaut.
»Gut«, sagte Vater. »Einen Moment lang habe ich geglaubt, er sei aus dem Fenster gesprungen, wie beim letzten Mal, als sie gekommen waren, um ihn zu holen.«
»Was wird er jetzt tun?«, fragte Max.
»Ich habe ihm gesagt, er soll dort bleiben, bis wir weg sind, und unseren Nachbarn dann
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