Wir Kinder von Bergen-Belsen
wir sollen lieber das nächste Mal abwarten.«
Ich sagte meinem Vater, dass ich froh sei, dass Hennie es nicht wollte. »Es ist viel zu gefährlich. Mich erschreckt die Vorstellung, durch Deutschland zu fahren. Ich möchte lieber nach England gehen.«
»Natürlich«, sagte mein Vater, »das kann ich verstehen. Aber ein Rheinschlepper ist eben nicht für das Meer gebaut.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Warten wir also und sehen, ob der Doktor die Banknote aus der Schweiz zurückschickt. Ich hoffe es, auch um seinetwillen.«
»Wann fährt der Schlepper los?«, fragte ich.
»In zwei Tagen«, antwortete mein Vater.
Wir schwiegen beide und hingen unseren eigenen Gedanken nach.
Vier Tage vergingen. Wir hatten erwartet, dass Hennie kommen würde, aber er kam nicht. Vater wurde nervös und wir waren ebenfalls beunruhigt. Am fünften Tag kam Dirk, der ältere Poli-zist, der Hennie begleitet hatte, als unser Dachboden ausgeraubt worden war. Er teilte uns mit, dass Hennie zwei Tage zuvor von der SS verhaftet und zum SS-Hauptquartier in der Euterpestraat gebracht worden war. Wir waren entsetzt, denn wir hatten von den Grausamkeiten gehört, die dort von der SS begangen wurden. Dirk berichtete, dass sich, soweit er herausgefunden habe, ungefähr dreißig Personen (etwa fünf Familien) auf dem Rheinschlepper befunden hätten. Sie hatten der Besatzung einen Haufen Geld bezahlt und der Schlepper hatte in den späten Abendstunden auch ungestört abgelegt. Doch um Mitternacht, sie waren mitten auf der Zuidersee, begann die Besatzung, die Familien über Bord zu werfen. Die Schreckensschreie waren so laut, dass ein deutsches Patrouillenboot die Verfolgung aufnahm. Natürlich wurden alle aufgegriffen und befragt — mit schrecklichen Folgen für Hennie. Dirk sagte, er sei in einem sehr schlechten Zustand und befinde sich im Wilhelmina-Hospital, unter Aufsicht der SS.
Mama weinte. Und ich saß wie erstarrt auf dem Stuhl, mein Verstand wollte die Wahrheit nicht akzeptieren. Unser wunderbarer Freund. Einundzwanzig Jahre alt. Er hatte sein Leben riskiert, um den verzweifelten Menschen zu helfen.
»Meine Familie verdankt Hennie ihr Leben. Er hat mir geraten, nicht an dieser Fahrt teilzunehmen, sondern zu warten«, sagte mein Vater mit aschgrauem Gesicht. »Ich kann ihm nicht genug danken dafür, dass er mich davon abgehalten hat, eine Dummheit zu begehen. Oh Gott! Hoffentlich geht es ihm bald besser!« Er schlug mit den Fäusten auf den Tisch. »Ja, bitte«, wiederholte er, »hoffentlich geht es ihm bald besser.«
In diesem Moment kam Sonja, die Nichte meines Vaters, mit ihrem Freund Jonnie herein. Wir fürchteten uns ein wenig vor Jonnie, denn wir wussten nicht, ob er »sicher« war. Er behauptete, ein Inspektor bei der niederländischen Polizei zu sein, aber Dirk hatte im Register nachgeforscht und seinen Namen nicht gefunden. Jonnie war schrecklich verliebt in Sonja, aber in seiner Anwesenheit waren wir sehr vorsichtig mit dem, was wir sagten. Deshalb erzählten wir ihnen nur, Hennie liege nach einem ernsten Unfall verletzt im Wilhelmina-Hospital und ein Polizist bewache die Tür.
»Ich werde morgen hingehen und nach ihm schauen«, sagte Jonnie.
Dirk stand auf und verabschiedete sich. »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas Neues von Jonnie erfahren«, sagte er zu meiner Mutter und sie brachte ihn zur Tür.
Allein mit ihr in der Küche berichtete meine Mutter Sonja von der schrecklichen Geschichte. Bald danach gingen sie und ihr Freund wieder. Wir waren froh, dass sie weg waren. In unserer deprimierenden Situation hatten wir keine Lust, Gäste zu unterhalten.
Am nächsten Abend erzählte mir mein Vater, dass Jonnie tatsächlich ins Hospital gegangen war, um nach Hennie zu sehen. Sein Zustand sei fürchterlich. Die SS habe seinen Kopf zu einer blutigen Masse geschlagen und ihn so gefoltert, dass seine Nieren zerstört seien. So erschien es uns fast wie eine Gnade, dass er um nächsten Tag starb.
Die Deutschen hatten unsere Pässe schon mehrmals kontrolliert, doch sie waren immer wieder gegangen, nachdem sie den Freistellungseintrag gesehen hatten. Bis jetzt hatten wir noch nichts von der uns versprochenen Reise nach Portugal gehört, aber unsere Koffer lagen gepackt unter unseren Betten, für den Fall, dass die Nachricht käme. Am 29. September 1943 um vier Uhr morgens wurde so laut an unsere Tür geklopft, dass alle im Haus aufwachten. Ich hörte, wie meine Eltern in ihrem Schlafzimmer herumliefen und wie meine
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