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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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zu sehen, den Zopf nur halb geflochten, als habe sie sich in ihrer Einsamkeit aufgelöst und habe, obgleich sie dort sichtbar saß, die natürliche Fähigkeit verloren, anwesend zu sein. Daher wußten wir jetzt, daß sie nie wieder lächeln würde; denn sie hatte es genauso überzeugt und sicher gesagt, wie sie uns einmal gesagt hatte, sie würde nie wieder gehen. Es war, als hätten wir die Gewißheit, daß sie uns später sagen würde: »Ich werde nicht mehr sehen« oder vielleicht: »Ich werde nicht wieder hören«, und als wüßten wir, daß sie menschlich genug war, um willentlich ihre lebensnotwendigen Funktionen auszulöschen, und daß ihr ganz spontan ein Sinn nach dem anderen abhanden kommen würde bis zu dem Tag, an dem wir sie an der Wand lehnend entdecken würden, als habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben geschlafen. Vielleicht fehlte noch viel Zeit bis dahin, doch wir drei, die im Innenhof saßen, hätten in jener Nacht gerne ihr jähes zartes Weinen von zersplittertem Glas gehört, um uns zumindest der Selbsttäuschung hinzugeben, daß ein Kind - Junge oder Mädchen - im Hause geboren war. Um zu glauben, daß sie neu geboren war.

Zwiesprache des Spiegels
    1949
     
    Der Mann des früheren Aufenthalts, nachdem er lange Stunden wie ein Heiliger geschlafen hatte, uneingedenk der Sorgen und Beunruhigungen des jüngsten Morgengrauens, erwachte, als der Tag schon voranschritt und der Stadtlärm die Luft des halbgeöffneten Raums bis zum Rande füllte. Da kein anderer Seelenzustand ihn bewohnte, mußte er an die schwere Belastung durch den Tod denken, an seine runde Angst, an das Stück Lehm - Tonerde von ihm selbst -, das sein Bruder unter der Zunge haben würde. Doch die fröhliche Sonne, die den Garten erhellte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf ein gewöhnlicheres, irdischeres und vielleicht weniger wahres Leben als eine furchterregende innere Existenz. Auf sein Leben eines gewöhnlichen Menschen, eines alltäglichen Tieres, das ohne daß er dabei mit seinem Nervensystem, mit seiner empfindlichen Leber rechnete -, ihm die unvermeidliche Unmöglichkeit ins Gedächtnis rief, wie ein Bürgersmann zu schlafen. Er dachte - und da war fraglos ein Gran bürgerliche Mathematik in den zungenbrecherischen Ziffern - an die finanziellen Geduldspiele im Büro.
    Acht Uhr zwölf. Ich werde totsicher zu spät kommen. Er betastete seine Wange mit den Fingerkuppen. Die mit hervortretenden Nervensträngen übersäte Haut hinterließ in seinen Fingerantennen den Eindruck von hartem Haar. Dann fuhr er sich mit der halbgeöffneten Handfläche zerstreut und behutsam übers Gesicht, mit der gelassenen Ruhe des Chirurgen, der den Kern des Tumors kennt; und aus der weichen Oberfläche tauchte nach innen die harte Substanz einer Wahrheit auf, von der seine Angst gelegentlich erbleicht war. Dort, unter den Fingerkuppen - und nach den Fingerkuppen, Knochen gegen Knochen - hatte sein unwiderruflicher anatomischer Zustand eine Ordnung von Verbindungen, ein dichtgededrängtes Universum von Geweben, von kleineren Welten begraben, die ihn stützten, die seine fleischliche Rüstung einer weniger dauerhaften Höhe als die natürliche und letzte Stellung seiner Knochen entgegenhoben.
    Ja. Der Kopf in der weichen Materie des Kissens versunken, der Körper auf der Rast seiner Organe ausgestreckt, so gewährte das Leben einen horizontalen Reiz und seinen eigenen Grundsätzen eine größere Bequemlichkeit. Er wußte, daß mit der minimalen Anstrengung, die Lider zu schließen, die ihn erwartende ermüdende Aufgabe sich in einem unkomplizierten Klima vollziehen würde, ohne Verpflichtungen an Zeit und Raum: ohne die Notwendigkeit, daß dieses chemische Abenteuer, das seinen Körper ausmachte, bei seiner Verwirklichung die geringste Beeinträchtigung erlitt. Im Gegenteil, so, mit geschlossenen Lidern, war die vollständige Ökonomie lebenswichtiger Hilfsmittel am Werk und verursachte nicht den geringsten organischen Verschleiß. Sein Körper, im Wasser der Träume untergetaucht, konnte sich regen, konnte leben, sich in andere Existenzformen entwickeln, in denen seine wirkliche Welt für seine innere Notwendigkeit eine gleichwertige, wenn nicht höhere Emotionsdichte besitzen würde, mit denen die Notwendigkeit zu leben ohne Schaden für seine körperliche Unversehrtheit vollauf zufriedengestellt sein würde. Dann würde die Aufgabe, mit den Wesen, den Dingen zusammenzuleben, viel leichter sein, nebenbei noch in der gleichen Form wie in der

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