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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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sie die Frau eines braven Bürgers oder die Konkubine eines pünktlichen Mannes gewesen. Doch sie hatte sich daran gewöhnt, in einer einzigen Dimension zu leben wie die Gerade, vielleicht weil ihre Laster oder ihre Tugenden sich nicht im Profil erkennen ließen. Schon seit einigen Jahren wußten wir das alles. Wir waren nicht einmal überrascht, als wir morgens nach dem Aufstehen sie im Innenhof auf dem Bauch liegen und in starrer Haltung in die Erde beißen sahen. Dann lächelte sie und blickte uns wieder an; sie war aus dem Fenster des zweiten Stocks auf die harte Tonerde des Innenhofs gestürzt und war dort, stur und steif mit dem Gesicht auf dem feuchten Lehm liegen geblieben. Doch dann erfuhren wir, das einzige, was sie unversehrt bewahrt hatte, sei die Angst vor Entfernungen, der natürliche Schrecken vor der Leere. Wir hoben sie an den Schultern auf. Sie war nicht so hart, wie sie uns anfangs vorgekommen war. Im Gegenteil, alle ihre Organe und Glieder waren locker, von jeder Willenskraft gelöst wie ein lauwarmer Toter, der noch nicht starr geworden war.
    Ihre Augen standen offen, ihr Mund war schmutzig von der Erde, die für sie schon Grabesgeschmack haben mußte, als wir sie mit dem Gesicht zur Sonne hin legten, und es war, als hätten wir sie vor einen Spiegel gestellt. Sie blickte uns alle mit erloschenem, geschlechtlosem Gesichtsausdruck an, der uns - ich hielt sie bereits in meinen Armen - das Ausmaß ihrer Abwesenheit gab. Jemand sagte, sie sei tot; und dann trug sie jenes kalte stille Lächeln zur Schau, das sie während der Nächte getragen hatte, als sie hellwach durchs Haus irrte. Sie sagte, sie wisse nicht, wie sie in den Innenhof gelangt sei. Sie sagte, ihr sei entsetzlich heiß gewesen, sie habe eine Zikade gehört, schrill und aufsässig, die - so sagte sie - entschlossen gewesen sei, ihre Zimmerwand umzustürzen, und sie habe sich an die Sonntagsgebete erinnert und dabei die Wange auf den Zementfußboden gedrückt.
    Im übrigen wußten wir, daß sie sich an keinerlei Gebet erinnern konnte, wie wir auch später erfuhren, daß sie das Zeitgefühl verloren hatte, als sie sagte, daß sie stehend geschlafen und von innen die Wand gestützt habe, gegen welche die Zikade von außen gedrückt habe, und daß sie fest geschlafen habe, als jemand sie an den Schultern packte, die Wand fortschob und sie mit dem Gesicht zur Sonne hinlegte.
    In jener Nacht wußten wir, als wir im Innenhof saßen, daß sie nie wieder lächeln würde. Vielleicht tat uns schon im voraus ihre ausdruckslose Ernsthaftigkeit weh, ihr düsteres und freiwilliges Winkelleben. Es tat uns furchtbar weh, wie uns der Tag weh tat, als wir sie in die Ecke kriechen sahen, in der sie nun hockte; und wir hörten sie sagen, daß sie nie wieder durchs Haus streichen werde. Anfangs konnten wir es nicht glauben. Monate hindurch hatten wir sie zu jeder beliebigen Stunde durch die Zimmer wandern sehen, mit festgefrorenem Kopf und hängenden Schultern, ohne innezuhalten, ohne jemals zu ermüden. Nachts hörten wir ihr dichtes Körpergeräusch, wie es sich zwischen zwei Dunkelheiten bewegte, und vielleicht lagen wir oftmals wach im Bett und lauschten ihrem stillen Gang und verfolgten sie mit dem Gehör durchs ganze Haus. Einmal sagte sie uns, sie habe die Zikade im Mond des Spiegels gesehen, versunken, untergetaucht in der festen Durchsichtigkeit, und sie sei durch die Oberfläche des Glases getreten, um sie zu erreichen. In Wirklichkeit wußten wir nicht, was sie uns sagen wollte, doch wir alle konnten feststellen, daß die Kleider ihr naß am Leib klebten, als sei sie soeben einem Wassertank entstiegen. Ohne uns das Phänomen erklären zu wollen, beschlossen wir, mit den Insekten des Hauses kurzen Prozeß zu machen: die Gegenstände zu zerstören, die ihr beständig zusetzten.
    Wir ließen die Wände säubern; wir gaben Anweisung, daß die Büsche des Innenhofs beschnitten wurden, und es war, als hätten wir die Stille der Nacht von kleinen Abfällen gereinigt. Doch schon hörten wir sie nicht mehr umhergehen, wir hörten sie nicht mehr von Zikaden sprechen bis zu dem Tag, als sie uns nach der Abendmahlzeit anblickte, sich auf den Zementfußboden setzte und, ohne den Blick von uns zu lassen, sagte: »Ich werde hier sitzen bleiben«; und wir erzitterten, denn wir konnten sehen, daß sie bereits etwas zu gleichen begann, das schon fast vollkommen wie der Tod war.
    Das lag schon sehr lange zurück, wir hatten uns schon daran gewöhnt, sie dort sitzen

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