Wir nannten ihn Galgenstrick
dunklen Winkel. Die Katze war nirgendwo. Sie suchte auf den Dächern, auf den Bäumen, in den Kanälen, unter dem Hell, in der Anrichte. Sie fand alles in vollkommener Verwirrung. Wo sie geglaubt hatte, die Porträts ihrer Ahnen zu finden, stieß sie nur auf eine Flasche mit Arsen. Fortan fand sie Arsen im ganzen Haus, die Katze indes war verschwunden. Das Haus war nicht mehr dasselbe wie vorher. Was war aus ihren Sachen geworden? Warum waren ihre dreizehn Lieblingsbücher mit einer dichten Schicht Arsen überzogen? Sie erinnerte sich an den Orangenbaum des Innenhofs. Sie suchte ihn und schaute auch wieder nach »dem Kind« in seinem Wasserloch. Doch der Orangenbaum stand nicht an seinem Platz, und »das Kind« war nur mehr eine Handvoll Arsen und Asche unter einer schweren Betonplatte. Und jetzt schlief es endgültig. Alles war anders. Und das Haus verströmte einen starken Geruch nach Arsen, der wie aus einer Drogerie an ihre Nüstern schlug.
Erst jetzt begriff sie, daß seit dem Tag, da sie das Verlangen verspürt hatte, die erste Orange zu essen, dreitausend Jahre vergangen waren.
Bitterkeit für drei Schlafwandler
1949
Nun hatten wir sie dort, abgestellt in einem Winkel des Hauses. Jemand hatte uns gesagt, bevor wir ihre Sachen gebracht hatten, ihre nach frischem Holz riechenden Kleider, ihre für Lehmboden viel zu leichten Schuhe, daß sie sich nie an das langweilige Leben gewöhnen würde, ohne süße Düfte, ohne andere Reize als die harte Einsamkeit aus Kalk und Mauerecke, die gegen ihren Rücken drückte. Jemand sagte uns - und viel Zeit war vergangen, bevor wir uns daran erinnerten -, daß auch sie eine Kindheit gehabt hatte. Vielleicht glaubten wir es damals nicht. Doch nun, als wir sie in dem Winkel sitzen sahen mit erschrockenen Augen, einen Finger an den Lippen, nahmen wir es vielleicht hin, daß sie einmal eine Kindheit gehabt hatte, daß sie einmal ein Gefühl gehabt hatte für die dem Regen vorausgehende Frische und daß sie immer seitlich zu ihrem Körper einen unerwarteten Schatten ertragen hatte.
All das - und viel mehr - hatten wir an jenem Nachmittag geglaubt, an dem wir uns darüber klar wurden, daß sie oberhalb ihrer entsetzlichen Unterwelt hinaus vollkommen menschlich war. Wir wußten es, als sie mit einemmal, als sei drinnen ein Kristall gesplittert, angstvolle Schreie auszustoßen begann; sie rief einen jeden von uns beim Namen und redete unter Tränen, bis wir uns neben sie setzten; wir stimmten Lieder an und schlugen in die Hände, als vermöchte unser Geschrei die versprengten Glassplitter zusammenzufügen. Erst jetzt konnten wir glauben, daß sie einmal eine Kindheit gehabt hatte. Es war, als glichen ihre Schreie irgendwie einer Offenbarung; als hätten sie viel von einem erinnerten Baum und einem tiefen Fluß, als sie sich aufrichtete, sich leicht vorneigte, und ohne sich das Gesicht mit der Schürze zu bedecken, noch die Nase zu schneuzen, noch immer unter Tränen sagte: »Ich werde nie mehr lächeln.«
Ohne ein Wort traten wir drei in den Innenhof hinaus, vielleicht glaubten wir, gemeinsame Gedanken mitzunehmen. Vielleicht dachten wir, es wäre wohl nicht das beste, die Lichter im Haus anzuzünden. Sie wünschte allein zu sein - vielleicht -, in ihrem düsteren Winkel hockend und sich den letzten Zopf flechtend, der das einzige schien, was von ihrem Obergang zum Tier überleben würde.
Draußen im Hof, in den tiefen Insektendunst gehüllt, saßen wir und dachten an sie. Wir hatten das schon manches Mal getan. Wir hätten sagen können, wir taten das, was wir an allen Tagen unseres Lebens getan hatten.
Und doch war jene Nacht anders: Sie hatte gesagt, sie würde nie wieder lächeln, und wir, die wir sie so gut kannten, waren sicher, daß der Alptraum Wahrheit geworden war. Wir saßen im Dreieck, wir sahen sie drinnen vor uns, abstrakt, sogar außerstande, die zahllosen Uhren zu hören, die den peinlich genauen und deutlich hörbaren Rhythmus maßen, in dem sie sich in Staub verwandeln würde: »Wären wir wenigstens mutig genug, ihren Tod zu wünschen«, dachten wir im Chor. Doch wir wollten sie so: Häßlich und eisig, gleichsam als kleinlichen Beitrag zu unseren verborgenen Mängeln.
Wir waren seit Jahren, seit geraumer Zeit erwachsen. Sie war übrigens die älteste im Haus. In dieser selben Nacht hätte sie dort mit uns sitzen und, umgeben von gesunden Kindern, den maßvollen Puls der Sterne fühlen können. Sie wäre die achtbare Herrin des Hauses gewesen, wäre
Weitere Kostenlose Bücher