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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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sah sie groß, ungeheuerlich bei ihrem verzweifelten Kampf, seine Netzhaut zu durchstoßen. Nun glaubte er an einen neuen Tod und überließ sich ganz und gar dem drohenden Schwindelgefühl.
    Er erinnerte sich, daß er volljährig geworden war. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, und das bedeutete, daß er nicht mehr wachsen würde. Seine Züge würden fest werden und ernst. Doch sobald er gesund war, würde er nicht mehr von seiner Kindheit sprechen können. Er hatte keine gehabt. Er hatte sie tot zugebracht.
    Seine Mutter hatte ihm während der ganzen Zeit, die der Übergang von der Kindheit zur Pubertät dauerte, jede Sorge angedeihen lassen. Sie hatte sich um die peinliche Sauberhaltung des Sarges und des Zimmers im allgemeinen gekümmert. Sie hatte häufig die Blumen in den Vasen gewechselt und jeden Tag die Fenster geöffnet, damit frische Luft hereinkam. Mit welcher Befriedigung hatte sie in jener Zeit das Metermaß betrachtet, wenn sie nach dem Messen feststellte, daß er mehrere Zentimeter gewachsen war! Sie empfand mütterliche Befriedigung, ihn lebendig zu sehen. Dennoch sorgte sie dafür, daß Fremde nicht das Haus betraten. Schließlich und endlich war das Dasein eines Toten so viele Jahre hindurch im Heim einer Familie lästig und obendrein geheimnisvoll. Sie war eine selbstlose Frau. Doch sehr bald begann ihr Optimismus zu sinken. In den letzten Jahren sah er sie das Metermaß traurig betrachten. Ihr Kind wuchs nicht mehr. In den letzten Monaten war das Wachstum um keinen Millimeter fortgeschritten. Seine Mutter wußte, daß es fortan schwierig sein würde, eine Art und Weise zu finden, um die Anwesenheit des Lebens in ihrem geliebten Toten festzustellen. Sie hegte die Befürchtung, daß er eines Morgens »wirklich tot« erwachen würde, und vielleicht konnte er deshalb an jenem Tag beobachten, daß sie sich heimlich seinem Sarg näherte und seinen Körper beroch. Sie war einem Anflug von Pessimismus verfallen. In letzter Zeit hatte sie in ihrer Betreuung nachgelassen und nie mehr ihr Metermaß mitgebracht. Sie wußte, daß er nicht mehr wachsen würde.
    Und er wußte, daß er jetzt »wirklich« tot war. Er wußte es dank jener friedlichen Ruhe, mit der sein Organismus sich gehen ließ. Alles hatte sich zur Unzeit verändert. Das unmerkliche Pochen, das nur er wahrnehmen konnte, war nun aus seinem Puls gewichen. Er fühlte sich schwer, durch eine fordernde, machtvolle Kraft vom ursprünglichen Stoff der Erde angezogen. Nun schien die Schwerkraft ihn mit unwiderstehlicher Macht anzuziehen. Er war schwer wie ein wirklicher, unleugbarer Leichnam. Und doch war er so ausgeruhter. Er brauchte nicht einmal zu atmen, um seinen Tod zu leben.
    In der Vorstellung durchlief er, ohne sich zu berühren, seine Glieder, eines nach dem anderen. Dort, auf einem harten Kissen, lag sein leicht nach links gedrehter Kopf. Er stellte sich seinen Mund geöffnet von dem schmalen Kältesaum vor, der seine Kehle mit Hagel füllte. Er war geknickt wie ein fünfundzwanzig Jahre alter Baum. Vielleicht versuchte er den Mund zu schließen. Das Taschentuch, das seine Kinnbacken festgehalten hatte, war locker geworden. Er vermochte sich nicht zurechtzusetzen, geradezurücken, nicht einmal eine Pose einzunehmen, um als anständiger Toter zu erscheinen. Schon reagierten seine Muskeln, seine Glieder nicht mehr wie früher so pünktlich auf den Ruf seines Nervensystems. Er war nicht mehr der von vor achtzehn Jahren, ein normales Kind, das sich nach Belieben bewegen konnte. Er fühlte seine herabgesunkenen Arme, gefallen für immer, gegen die gepolsterten Sargwände gepreßt. Sein Bauch, hart wie Nußbaumrinde. Weiter unten seine Beine, vollständig, genau seine vollendete Anatomie eines Erwachsenen ergänzend. Sein Körper ruhte schwerfällig, jedoch friedlich, ohne jegliches Mißbehagen, als sei die Welt plötzlich stehengeblieben, als unterbräche niemand die Stille; als hätten alle Lungen der Erde aufgehört zu atmen, um nicht die leichtfüßige Ruhe der Luft zu unterbrechen. Er fühlte sich glücklich wie ein Kind, das im frischen, plattgedrückten Gras auf dem Rücken liegt und einer im Nachmittagshimmel davonsegelnden hohen Wolke nachblickt. Er war glücklich, obwohl er wußte, daß er tot war, daß er für immer in der mit Kunstseide ausgeschlagenen Totenkiste ruhte. Er war von großer Hellsicht. Es war nicht wie vorher, nach seinem ersten Tod, in dem er sich abgestumpft und roh vorgekommen war. Die vier Kerzen, die rings um ihn

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