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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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der Ruhe wiederzufinden. Das gestaute Blut machte sich in seiner Kehle Luft, und tiefer, in der Brust, schlug verzweifelt sein Herz, hämmerte, hämmerte, rasch und rhythmisch, als habe er einen atemlosen Lauf hinter sich. Er überdachte im Geist die vergangenen Minuten. Vielleicht hatte er einen seltsamen Traum gehabt. Es mochte ein Alptraum gewesen sein. Nein. »Daran« war nichts Besonderes, kein Anlaß zum Auffahren aus dem Schlaf.
    Sie fuhren in einem Zug - jetzt erinnerte er sich daran - durch eine Landschaft - einen Traum, den er häufig geträumt hatte - mit Stilleben, bepflanzt mit künstlichen, falschen Bäumen, behängt mit Früchten, die Rasiermesser, Scheren und andere Barbierwerkzeuge waren -, jetzt fällt mir ein, ich muß mir die Haare schneiden lassen. Diesen Traum hatte er häufig geträumt, doch nie war er deshalb aus dem Schlaf aufgefahren. Hinter einem Baum stand sein Bruder, der andere, sein Zwilling, der, welcher am Nachmittag beerdigt worden war, und gestikulierte - das ist mir im wirklichen Leben gelegentlich passiert -, damit ich den Zug anhalte. Von der Nutzlosigkeit seiner Botschaft überzeugt, rannte er hinter dem Eisenbahnwagen her, bis er mit schaumbedecktem Mund keuchend zu Boden stürzte. Fraglos war das sein ungereimter, widersinniger Traum, der jedoch keinesfalls dies schreckhafte Erwachen bewirken konnte. Wieder schloß er die Augen, während seine Schläfen wie unter Faustschlägen ungestüm hochgeschossenen Bluts hämmerten. Der Zug fuhr durch eine dürre, unfruchtbare, langweilige Landschaft, und nun lenkte ein im linken Bein gefühlter Schmerz seine Aufmerksamkeit von der Landschaft ab. Er bemerkte, daß er - ich darf die engen Schuhe nicht mehr tragen - eine Geschwulst am mittleren Zeh hatte. Auf die natürlichste Weise und als tue er dies gewohnheitsgemäß, zog er einen Schraubenzieher aus der Tasche und entfernte damit den Kopf der Geschwulst. Behutsam legte er ihn in ein blaues Schächtelchen - sieht man im Traum Farben? - und sah durch den Schnitt das Ende einer fettiggelben Schnur dringen. Ohne sich zu erregen, als habe er die Anwesenheit dieses Schnurendes erwartet, zog er langsam daran, behutsam und genau. Es war ein langes, ellenlanges Band, das unvermittelt hervorkam, ohne Belästigung oder Schmerz zu verursachen. Eine Sekunde später hob er den Blick und sah, daß der Eisenbahnwagen sich geleert hatte und daß im nächsten Wagen des Zuges nur noch sein als Frau verkleideter Bruder vor einem Spiegel saß und sich mit einer Schere das linke Auge auszustechen suchte.
    Tatsächlich mißfiel ihm der Traum, doch vermochte er sich nicht zu erklären, warum sein Blutkreislauf stockte, wenn er bei den Malen davor, als die Alpträume schreckenerregend waren, die Ruhe zu bewahren vermocht hatte. Er fühlte, daß seine Hände kalt waren. Der Geruch nach Veilchen und Formaldehyd hielt an und wurde lästig, fast aufsässig. Mit geschlossenen Augen und dem Bemühen, den beschleunigten Atem zu mäßigen, versuchte er ein alltägliches Thema zu finden, um von neuem in den vor wenigen Minuten unterbrochenen Traum zu sinken. Er konnte zum Beispiel denken, in drei Stunden muß ich ins Bestattungsinstitut gehen, um die Kosten rückgängig zu machen. In der Zimmerecke hob eine schlaflose Zikade ihre Schelle, füllte den Raum mit ihrem schrillen, schneidenden Kehlengeräusch. Seine nervöse Spannung ließ langsam, aber wirksam nach, und wieder stellte er die Weichheit und Schlaffheit seiner Muskeln fest' er fühlte sich auf der weichen, dichten Matratze liegen, während sein leichter, schwereloser, von einer süßen Empfindung der Glückseligkeit und Müdigkeit durchdrungener Körper langsam das Bewußtsein von seiner stofflichen Struktur, von jener irdischschweren Substanz verlor, die ihn bestimmte, die ihn in eine unverwechselbare und genaue Zone der zoologischen Stufenleiter stellte und in seiner komplizierten Architektur eine ganze Summe von Systemen, von geometrisch umrissenen Organen trug, die ihn in die willkürliche Hierarchie der mit Vernunft begabten Tiere erhob. Die nunmehr gefügigen Lider fielen auf die Hornhaut mit der gleichen Natürlichkeit, mit der die Arme und die Beine sich mit einer Gesamtheit von Gliedern vermengten, die allmählich ihre Unabhängigkeit verloren; als sei der ganze Organismus in einem einzigen, großen, umfassenden Organismus aufgegangen, und als habe er - der Mensch - seine sterblichen Wurzeln aufgegeben, um in andere, tiefere, festere Wurzeln

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