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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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einzudringen: in die ewigen Wurzeln eines umfassenden und endgültigen Traums. Außen, an der Außenseite der Welt hörte er den Gesang der Zikade schwächer werden, bis er aus seinen Sinnen schwand, die sich nach innen gewandt hatten, ihn in ein neues einfaches Zeit- und Raumgefühl tauchten und die materielle, physische und schmerzliche, von Insekten und scharfen Veilchen- und Formaldehydgerüchen angefüllte Welt auslöschten. Friedlich in das laue Klima begehrter Ruhe gehüllt, fühlte er die Leichtigkeit seines künstlichen, täglichen Todes. Er versank in einer liebenswerten Landschaft, in einer leichten, idealen Welt; einer wie von einem Kind entworfenen Welt ohne algebraische Gleichungen, ohne verliebte Abschiede und ohne Schwerkraft.
    Er konnte nicht genau sagen, wie lange er so lag, zwischen dieser edlen Oberfläche aus Träumen und Wirklichkeiten; er erinnerte sich jedoch daran, daß er jäh, als hätte ein Messer ihm die Kehle durchschnitten, im Bett auffuhr und fühlte, daß sein Zwillingsbruder, sein toter Bruder auf dem Rand seines Bettes saß.
    Wieder war sein Herz wie zuvor eine Faust, die ihm in den Mund fuhr und ihn aufspringen hieß. Das anbrechende Licht, die Zikade, die die Einsamkeit mit ihrer rauhen Drehorgel zermürbte, die frische Luft, die aus der Gartenwelt heraufdrang, all das trug dazu bei, ihn von neuem der wirklichen Welt zurückzugeben; doch diesmal vermochte er zu begreifen, warum er auffuhr. Während der kurzen Minuten des Dahinschlummerns und - nun wird es mir bewußt - während der ganzen Nacht, in der er einen friedlichen, einfachen Traum ohne Gedanken geträumt zu haben glaubte, war seine Erinnerung auf ein einziges, festes, unveränderliches Bild eingestellt gewesen; auf ein autonomes Bild, das sich seinem Denken, dem Willen und Widerstand eben dieses Denkens zum Trotz aufgezwungen hatte. Ja. Fast ohne daß es ihm aufgefallen war, hatte »dieses« Denken sich seiner bemächtigt, hatte ihn angefüllt, ihn ganz bewohnt, ihn in einen Bildhintergrund verwandelt, der hinter den anderen Gedanken unveränderlich blieb und den Rückhalt, das endgültige Rückgrat im geistigen Drama seines Tages und seiner Nacht ausmachte. Die Vorstellung vom Leichnam seines Zwillingsbruders hatte sich in seinem Lebenszentrum festgesetzt. Und nun, da jener in seinem Stückchen Erde ruhte, während seine Lider vom Regen zitterten, nun hatte er Angst vor ihm.
    Er hatte nie geglaubt, daß der Schlag so heftig sein würde. Wieder drang durch das halbgeöffnete Fenster der Geruch, schon vermengt mit einem anderen Geruch nach feuchter Erde, nach versunkenen Knochen, und sein Geruchssinn strebte ihm freudig entgegen, mit der fürchterlichen Fröhlichkeit des tierischen Menschen. Manche Stunde war seit dem Augenblick vergangen, da er ihn gesehen hatte, wie er sich wie ein schwerverwundeter Hund unter den Laken gewälzt hatte, heulend und diesen letzten Schrei zerbeißend, der ihm die Salzkehle füllte und wie er mit den Nägeln den Schmerz zu zerreißen suchte, der ihm den Rücken hochkletterte bis zu den Wurzeln des Geschwürs. Er konnte nicht seine Holzhammerschläge eines sterbenden Tiers vergessen, rebellisch gegen die Wahrheit, die vor ihm aufgestanden war, die sich hartnäckig an seinen Körper gekettet hatte, mit einer unverwüstlichen Standhaftigkeit, endgültig wie der leibhaftige Tod. Er sah ihn in den letzten Augenblicken seines barbarischen Todeskampfes. Als er sich die Fingernägel an den Wänden zerbrach und sich damit das letzte Stück Leben zerriß, das ihm zwischen den Fingern zerrann, das sich ihm verblutete, während der Brand ihm wie ein unerbittliches Weib den Rücken zerfleischte. Dann sah er ihn auf das zerwühlte Bett sinken mit nur wenig entsagender Müdigkeit, schweißüberströmt, als die schaumbedeckten Zähne der Welt ein grauenerregendes, schauerliches Lächeln zeigten und der Tod ihm wie ein Aschenfluß durch die Knochen zu eilen begann.
    Jetzt dachte ich an das Geschwür, das nicht mehr in seinem Bauch schmerzte. Ich stellte es mir rund vor - nun hatte er die gleiche Empfindung -, geschwollen wie eine innere Sonne, unerträglich wie ein gelbes Insekt, das seine giftigen Kühler bis in die Tiefe der Eingeweide hinunterstreckte. (Er fühlte seine Weichteile wie vor der Notdurft nachgeben.) Vielleicht werde ich einmal ein Geschwür wie das seinige haben. Anfangs wird es eine kleine, jedoch wachsende Kugel sein, die sich verzweigen und in meinem Bauch anschwellen wird wie ein Embryo.

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