Wir nannten ihn Galgenstrick
das mit dem Pferd, das nach ihm ausschlug und ihn fürs ganze Leben verblödete, vor zehn oder fünfzehn Jahren. Jemand im Haus sagte: »Besser, er wäre an dem Tag gestorben, statt durchzudrehen und das ganze Leben lang Unsinn zu reden.« Aber niemand hatte ihn wiedergesehen seit dem Tag, an dem wir ihn einsperrten. Wir wußten nur, daß er da war, eingesperrt im Schlafzimmer, und daß die Kleine nie wieder das Grammophon aufgezogen hatte. Aber im Haus legten wir kaum Wert darauf, das zu wissen. Wir hatten ihn eingesperrt, als sei er ein Pferd, als hätte der Schlag des Hufs ihm dessen Unbeholfenheit eingeimpft und ihm die ganze Sturheit der Pferde in die Stirn gegraben: die Vertiertheit. Und wir isolierten ihn in vier eigenen Wänden, als hätten wir beschlossen, ihn hinter Schloß und Riegel sterben zu lassen, weil wir nicht kaltblütig genug waren, ihn auf andere Weise zu töten. So vergingen vierzehn Jahre, bis eines von den Kindern heranwuchs und sagte, es verspüre Lust, sein Gesicht zu sehen. Und es öffnete die Tür.
Nabo sah wieder den Mann an. »Ein Pferd hat mich geschlagen«, sagte er. Und der Mann sagte: »Das sagst du seit Jahrhunderten, und dabei erwarten wir dich im Chor.« Nabo schüttelte wieder den Kopf, vergrub wieder die verletzte Stirn im Heu und glaubte sich plötzlich daran zu erinnern, wie alles gekommen war. »Es war das erste Mal, daß ich einem Pferd den Schweif kämmte«, sagte er. Und der Mann sagte: »Wir wollten es so, damit du bei uns im Chor singst.« Und Nabo sagte: »Ich hätte den Kamm nicht kaufen sollen.« Und der Mann sagte: »Du hättest ihn auf jeden Fall gefunden. Wir hatten beschlossen, daß du den Kamm findest und den Pferden die Schweife kämmst.« Und Nabo sagte: »Ich war nie hinter ihnen stehengeblieben.« Und der Mann, noch immer ruhig, noch immer ohne ungeduldig zu werden: »Aber du bist hinter ihm stehengeblieben, und das Pferd hat ausgeschlagen. Nur so konntest du zu uns in den Chor kommen.« Und die Unterhaltung, die unerbittliche, tägliche, ging so weiter, bis jemand im Haus sagte: »Es muß fünfzehn Jahre her sein, daß jemand diese Tür aufgemacht hat.« Die Kleine - sie war nicht gewachsen; sie war über die Dreißig hinaus und begann in den Lidern traurig zu werden - saß und blickte auf die Wand, als man die Tür öffnete. Sie wandte den Kopf und schnupperte nach der anderen Seite hin. Als man die Tür schloß, sagten sie wieder: »Nabo ist ruhig. Er bewegt sich schon nicht mehr dort drinnen. Eines Tages wird er sterben, und wir werden es nur durch den Gestank erfahren.« Und jemand sagte: »Wir werden es durch das Essen erfahren. Er hat nie aufgehört zu essen. Es geht ihm gut, so eingesperrt, ohne daß ihn jemand stört. Er kriegt gutes Licht von der Hinterseite.« Und so blieb alles; nur daß die Kleine weiterhin zur Tür blickte und den warmen Dunst witterte, der durch die Spalte drang. So verharrte sie bis zu dem Morgengrauen, als wir im Wohnzimmer ein metallisches Geräusch hörten und uns einfiel, daß es das gleiche Geräusch war, das fünfzehn Jahre früher zu hören gewesen war, als Nabo das Grammophon aufzog. Wir standen auf, zündeten die Lampe an und hörten die ersten Takte des vergessenen Liedes, des traurigen Liedes, das seit so vielen Jahren tot war auf der Platte. Das Geräusch ertönte weiter, immer unnatürlicher, bis ein trockener Knall zu hören war in dem Augenblick, als wir in die Stube traten und fühlten, daß die Platte noch klang, und wir die Kleine in der Ecke sahen, vor dem Grammophon, auf die Wand blickend, in der Hand die aus der Musiktruhe gelöste Kurbel. Wir rührten uns nicht. Die Kleine rührte sich nicht, sondern stand da, ruhig, steif, die Wand anblickend und die Kurbel in der Hand. Wir sagten nichts, sondern gingen ins Schlafzimmer zurück, und uns fiel ein, daß uns einmal jemand gesagt hatte, die Kleine wisse, wie man das Grammophon aufzieht. Daran dachten wir jetzt und konnten nicht einschlafen, wir hörten die kleine Melodie der abgespielten Platte, die sich noch dank der verbliebenen Kraft der gesprungenen Feder drehte.
Tags zuvor, als man die Tür öffnete, roch es drinnen nach biologischem Abfall, nach einem toten Körper. Derjenige, der geöffnet hatte, schrie: »Nabo! Nabo!« Aber niemand antwortete von drinnen. Vor dem Spalt stand der leere Teller. Dreimal am Tag schob man den Teller unter der Tür durch, und dreimal kam der Teller ohne Essen wieder heraus. Dadurch wußten wir, daß Nabo am Leben war.
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