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Wir nannten ihn Galgenstrick

Titel: Wir nannten ihn Galgenstrick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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seinem Notenpult der Musikkapelle. Nabo dachte wohl zunächst, er würde nicht mehr bei den Volkskonzerten mitspielen, obwohl das Notenpult noch dort stand. Und trotzdem, gerade weil das Notenpult da stand, dachte er später, würde der Neger am kommenden Samstag wieder spielen. Doch am kommenden Samstag kam er nicht wieder, und auch das Notenpult stand nicht mehr an seinem Platz.
    Nabo drehte sich auf die Seite und sah den Mann, der mit ihm sprach. Zunächst erkannte er ihn nicht, ausgelöscht, wie jener von der Dunkelheit des Pferdestalls war. Der Mann saß auf einer vorspringenden Bodenplanke, redete und hämmerte sich auf die Knie. »Ein Pferd hat nach mir ausgeschlagen«, sagte Nabo wieder, bemüht, den Mann zu erkennen. »Stimmt«, sagte der Mann. »Aber die Pferde sind nicht mehr da, und wir erwarten dich im Chor.« Nabo schüttelte den Kopf. Er hatte noch nicht angefangen zu denken, glaubte aber bereits, den Mann irgendwo gesehen zu haben. Der Mann sagte, sie erwarteten Nabo im Chor. Nabo verstand nicht, wunderte sich aber nicht, daß jemand das zu ihm sagte, denn jeden Tag, während er die Pferde striegelte, erfand er Lieder, um diese zu unterhalten. Dann sang er dieselben Pferdelieder in der Stube, um die stumme Kleine zu unterhalten.
    Aber die Kleine war in einer anderen Welt, in der Welt der Stube, sie saß, die Augen auf die Wand geheftet. Wenn jemand ihm während des Singens gesagt hätte, er wolle ihn zu einem Chor mitnehmen, er wäre nicht verwundert gewesen. Jetzt war er noch weniger verwundert, weil er nicht verstand. Er war erschöpft, benommen, vertiert. »Ich will wissen, wo die Pferde sind«, sagte er. Der Mann sagte: »Ich habe dir doch gesagt, daß die Pferde nicht hier sind. Uns interessiert nur, eine Stimme wie die deine mitzubringen.« Vielleicht hörte Nabo mit dem Gesicht im Heu, aber er konnte den Schmerz, den der Huf auf seiner Stirn hinterlassen hatte, nicht von den anderen ungeordneten Empfindungen unterscheiden. Er wendete den Kopf im Heu und schlief ein.
    Nabo ging dennoch zwei oder drei Wochen auf den Platz, obwohl der Neger nicht mehr in der Kapelle spielte. Vielleicht würde jemand Nabo geantwortet haben, wenn er gefragt hätte, was mit dem Neger passiert sei. Aber er fragte nicht, sondern hörte sich die Konzerte an, bis ein anderer Mann mit einem anderen Saxophon hinter dem Pult des Negers stand. Jetzt war Nabo überzeugt davon, daß der Neger nicht wieder kommen würde, und beschloß auch, nicht wieder auf den Platz zu gehen. Als er erwachte, glaubte er nur sehr kurz geschlafen zu haben. Noch immer brannte der Geruch nach feuchtem Heu in seiner Nase. Noch immer war die Dunkelheit vor seinen Augen und ringsum ihn her. Doch noch immer war der Mann in der Ecke. Die dunkle friedliche Stimme des Mannes, der sich auf die Knie hämmerte, sagte: »Wir erwarten dich, Nabo. Du hast fast zwei Jahre lang geschlafen und willst immer noch nicht aufstehen.« Jetzt schloß Nabo wieder die Augen. Dann öffnete er sie, blickte in die Ecke und sah von neuem den Mann, verwirrt, ratlos. Erst jetzt erkannte er ihn.
    Hätten wir im Haus gewußt, was Nabo Samstag abends auf dem Platz tat, wir hätten gedacht, daß er dann deshalb nicht mehr hinging, weil er bereits Musik im Haus hatte. Nämlich, als wir das Grammophon brachten, um die Kleine zu unterhalten. Da jemand nötig war, um es den ganzen Tag aufzuziehen, schien es das nächstliegende, daß Nabo dieser Jemand sei. Er konnte es ja tun, wenn er nicht mit den Pferden beschäftigt war. Die Kleine saß und hörte die Platten. Mitunter, wenn die Musik spielte, rutschte die Kleine vom Stuhl, ohne den Blick von der Wand zu wenden, sabbelnd, und schleppte sich in den Hausgang. Nabo hob die Nadel und begann zu singen. Anfangs, als er ins Haus gekommen war und wir ihn fragten, was er könne, sagte Nabo, er könne singen. Aber das interessierte niemanden. Was benötigt wurde, war ein Bursche zum Striegeln der Pferde. Nabo blieb, sang aber weiter, als hätten wir ihn aufgenommen, damit er singe, und als sei das Pferdestriegeln nur eine Unterhaltung, welche die Arbeit leichter machte. Das ging so über ein Jahr, bis wir im Haus uns an den Gedanken gewöhnt hatten, daß die Kleine nie mehr gehen würde, nie mehr jemanden erkennen würde und die einsame tote Kleine bleiben würde, die Grammophon hörte, kalt auf die Wand blickte, bis wir sie vom Stuhl hoben und sie ins Schlafzimmer brachten. Jetzt tat sie uns nicht mehr weh, aber Nabo blieb ihr treu und zog

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