Wir nennen es Politik
beharkte, gaben sie oft überzeugende Antworten. Nach vielen Diskussionen mit Passanten am Infostand begriff ich, dass es nicht reicht, das eigene Wahlprogramm zu verstehen. Ich musste auch die der anderen Parteien kennen und begreifen.Je mehr ich las, desto mehr bildeten sich in meinem Kopf Vorstellungen über grundlegende Unterschiede in politischen Stilen. Beispielsweise die Politik als Schutz vor Menschen im Gegensatz zur Politik zur Förderung der Menschen. Viele Gepflogenheiten des politischen Alltags verstand ich nicht. Beispielsweise war mir schleierhaft, warum überhaupt alle davon ausgehen, dass Koalitionsverhandlungen unbedingt geheim sein müssen. Ich stellte diese Fragen. Einige konnten meine Mitstreiter mir erklären, andere nicht. Was man mir nicht erklären konnte, dagegen begehrte ich natürlich auf. Der Zeitpunkt, ab dem ich wirklich innerlich politisch wurde, war der Zeitpunkt, an dem ich mich schon eine Weile mit der Materie befasst und mir oft genug an den Kopf gefasst hatte. Vielleicht ist es ähnlich, wie wenn man sein Arbeitszimmer nicht aufräumen will, bis man irgendwann versucht, wirklich darin zu arbeiten, und das Chaos es einem unmöglich macht.
Im Wahlkampf NRW lernte ich auch die ersten Berliner kennen, die gekommen waren, um uns zu unterstützen. Sie brachten uns bei, wie man »wandernde« Infostände macht, wenn man keine Standgenehmigung hat. Wir bewarfen Metallwände mit orangen LEDs an winzigen Magneten. Es war ein großer Spaß und ich begriff damals, wofür ich es tat, und ich tat es gerne. Doch persönlich strebte ich nach nichts.
Als ein Vorstandsposten beim Kreisverband Münster wegfiel, bat Philip mich, als Beisitzerin zu kandidieren. Wir waren sonst einfach nicht genug Leute, um alle Posten zu besetzen. Da ich ohnehin viel im Kreisverband aktiv war, tat ich das einfach. Es sollte nicht viel ändern, solche Formalitätenwerden nun mal gebraucht. Und doch hatte ich jetzt eine Verpflichtung, der ich mich nicht mehr so einfach entziehen konnte.
Ich würde jetzt gern eine stringente Geschichte erzählen, wo Ursache und Wirkung hübsch ineinandergreifen und an deren Ende ich im Bundesvorstand einer Partei bin, in die ich gerade mal anderthalb Jahre zuvor eingetreten war. Aber solche Geschichten sind im echten Leben selten. In Wirklichkeit waren wir sehr lange einfach nur der Vorstand eines kleinen Kreisverbandes einer unbedeutenden Partei. Wir trafen uns in Hinterzimmern von Cafés, rauchten und tranken, während auf dem Tisch immer ein Mikrofon stand, das unsere Vorstandssitzungen aufzeichnete und ins Internet übertrug. Es ging um die Planung von Infoständen, unserer Beteiligung an Demos und die Verwaltung von ungefähr 33 Euro Kreisverbandskasse. An dieser Stelle hatte ich immer noch nicht die geringste Vorstellung davon, wie Politik funktionierte. Für mich war es etwas zwischen Plakatekleben, Lesen, Diskutieren und für die richtigen Sachen auf die Straße zu gehen. Und ganz nebenbei lernte ich, was eine Geschäftsordnung ist, was eine Satzung ist, wie man eine Versammlung abhält, wie man ein Protokoll schreibt und wie eine Petition funktioniert. Es gibt keine Ausbildung zum Politiker. Aber wenn Sie das wollen, was dem am nächsten kommt, dann versuchen Sie es mit einem Piratenkreisverband.
Im Mai 2011 fuhren wir Münsteraner zusammen zum Bundesparteitag in Heidenheim. Es war mein erster Bundesparteitag.Ich freute mich schon sehr, all jene Piraten zu treffen, die ich nur über Twitter kannte. Ich war mir nicht sicher, wie viel ich zu den Vorstandswahlen beitragen konnte, denn ich kannte viele der Kandidaten nicht gut genug. Mir ging es aber um den Austausch. Zwischen einer Piratin und mir entstand einige Tage zuvor die Idee eines Abendgarderobe-Flashmobs, einfach nur aus Spaß an der Freude, und wir luden alle ein, in pompöser Pracht zum ersten Tag des Parteitags zu erscheinen. Ein Austausch von Abendkleidern, Krawatten und Schuhen entstand. Am Samstag war die Stimmung in Heidenheim entsprechend gut, denn wenig ist so schön wie eine Kongresshalle voller Menschen, die sich selbst nicht ganz ernst nehmen. Dabei hat der Auftritt in Abendmode unser Verhalten untereinander so zum Positiven verändert, dass die eigentliche Arbeit – also die Vorstandswahlen – ziemlich diszipliniert ablaufen konnte.
Der Samstag verging mit den Kandidaturreden, mit Kennenlernen, Sonnen, Rumscherzen. Am Ende stand Sebastian Nerz als Bundesvorsitzender der Piratenpartei fest. Ich kannte ihn
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