Wir nennen es Politik
sollten, was der Staat so tut, war mir neu und gefiel mir. Aber ich befasste mich nicht weiter damit.
Bis Sonntag, den 27. September 2009. Am Theater hatten wir gerade eine neue Produktion angefangen und trafen uns morgens schon für Proben. Der Raum war heiß und wir lachten alle mehr, als dass wir probten. Als wir kurz vor 14 Uhr alle im Kreis saßen, schwer atmend von der Anstrengung einer Übung, sagte Steffi, unsere Regisseurin: »In Ordnung, ich glaube, wir machen mal Schluss für heute. Ihr sollt ja auch alle wählen können. Vergesst nicht, wählen ist eure Pflicht.« Sie sagte das Letzte nur halb ernst, aber alle nickten so völlig überzeugt, dass es mich verblüffte. Ich hatte noch nie in meinem Leben gewählt, ja hatte es früher auch gar nicht gedurft. Meine deutsche Staatsbürgerschaft war noch gar nicht so alt und mein achtzehnter Geburtstag auch noch nicht lange her. Aber jetzt hatte ich frei und die Sonne schien und die Theaterübungen hatten mich in eine leichte, gute Stimmung versetzt. Das Wahllokal lag direkt auf dem Weg zu mir nach Hause. Es gab eigentlich wirklich wenig Entschuldigungen für mich, das nicht einmal auszuprobieren.
Wählen ist ein seltsam profaner Akt. Entgegen meinen Erwartungen hatte die Schule, in der die Wahlurne stand, keine roten Teppiche und keine Männer in Anzügen. Es war einfach eine Schule, mit jungen, fröhlichen Wahlhelfern, die große Zettel verteilten. Ich nahm einen solchenZettel, ging in eine Kabine und machte ein Kreuz bei der Piratenpartei. Weil sie mir sympathisch war. Besonders aber, weil sie klein und schwach war und ich es liebe, Kleinen und Schwachen eine Chance zu geben und zu schauen, was daraus wird. Nachdem ich den Stimmzettel eingeworfen hatte, schloss ich die Augen. Jetzt habe ich also die deutsche Politik beeinflusst. Niemand hat überprüft, ob ich mich mit dem Thema befasst hatte. Niemand hat nach den Motiven meiner Wahl gefragt. Man hat mich einfach ins Land gelassen und ich durfte Einfluss auf die hiesige Politik nehmen. Man vertraute mir. Das war ein phantastisches Gefühl.
Wenn man mir so sehr vertraut, dachte ich, will ich mich dieses Vertrauens als würdig erweisen. Diesen Satz habe ich mir nicht eben ausgedacht, weil er gut klingt. Es war wirklich, was ich dachte. Am selben Tag, am Sonntag, druckte ich ein Mitgliedsformular der Piratenpartei aus, füllte es aus und sandte es ab. »Ich bin jetzt in einer Partei«, sagte ich später zu meiner Mutter am Telefon. Sie schüttelte hörbar den Kopf.
Ich hatte erwartet, dass es sich anders anfühlt, »in einer Partei zu sein«. Dass jetzt irgendwas Magisches geschehen würde, das mich politisch macht. Ich würde in eine Parteizentrale kommen und dort mit gleichgesinnten Menschen … nun, irgendwas Politisches tun. In der Praxis habe ich mich aber ein halbes Jahr lang nicht einmal zu einem Stammtisch getraut. Denn die Piraten bekamen ja mein Geld, das war genug Hilfe. Außerdem war ich mir nicht sicher, ob ich an einem Stammtisch überhaupt willkommen sein würde. Immerhin war ich völlig ahnungslos,verstand weder etwas von den Inhalten noch von den Strukturen. Es hat bis zum Ende des Jahres 2009 gedauert, dass ich tatsächlich an einem offenen Stammtisch aufgeschlagen bin. Dort war es nicht so voll wie erwartet. Nur Philip Brechler und Bastian Greshake saßen in der Münsteraner Hausbesetzerkneipe »F 24« am Tisch, als ich hineinkam. Sie begrüßten mich herzlich und unterhielten sich dann über Laser. Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass es um Wahlkampfvorbereitungen ging. Die Landtagswahl Nordrhein-Westfalen 2010 stand vor der Tür und die Partei hatte weder Geld noch viele Helfer. Es mussten also kreative, möglichst günstige Ideen her. Freunde als Wahlkampfhelfer und Laser-Projektionen statt Großplakaten. Nach und nach kamen mehr Münsteraner Piraten an den Tisch. Ich wurde gar nicht von der Politik hineingezogen. Sondern von der kreativen Aufgabe, mit einfachen Mitteln großen Aufriss zu machen.
In den nächsten Monaten wurde jeder Mann und jede Frau gebraucht. Ich musste viel an Infoständen stehen und Bürgern die Politik der Piraten erklären. Dafür musste ich sie natürlich erst mal kennenlernen. Ich las also die Wahlprogramme der Bundes-, Landes- und unserer Kommunalebene. Es zu lesen genügte mir nicht. Ich verstand nicht alles, für einiges fehlten mir die Argumente. Also diskutierte ich. Das ging gut. Wenn man die Piraten in einem ruhigen Moment mit kritischen Fragen
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