Wir nennen es Politik
nicht und ging nicht davon aus, dass ich ihn näher kennenlernen würde. Als ich ihm gratulierte, sagte ich: »Ich schüttele dir auch mal die Hand. Davon wirst du ja noch ganz viel haben.« Ich hatte Mitgefühl mit dem etwas gequälten Lächeln, das er mir entgegenwarf.
Der Abend verlief, wie solche Abende verlaufen. In Abendkleidern Bier und Spirituosen einkaufen, verpeilt durch die Stadt fahren, viel zu viele Menschen in ein Hotelzimmer stopfen und singend, rauchend und lachend feiern. Es war das, was man seitdem als »die epischste allerPartys« bezeichnet, und als ich in den frühen Morgenstunden ins Bett kippte, dachte ich noch daran, dass ich den morgigen Tag eigentlich nur noch absitzen muss.
Der Sonntag allerdings war problematisch. Als die Wahl des politischen Geschäftsführers auf der Tagesordnung stand, gab es nur zwei Kandidaten. Keiner der beiden wurde ernst genommen, mindestens eine dieser Kandidaturen war eher als Scherz zu verstehen. Das führte dazu, dass etliche Leute spontan kandidierten, um eine größere Katastrophe zu verhindern. Die Kandidatenliste wuchs und wuchs. Ich stand mit Berlinern in einer Ecke, die den Prozess skeptisch beobachteten und abwechselnd Scherze darüber machten, wer alles noch kandidieren könnte.
»Kandidier du doch, Simon«, scherzte einer zum späteren Berliner Abgeordneten Simon Weiß. Der lachte leicht auf und schüttelte den Kopf. Irgendwann sagte er: »Warum eigentlich nicht Marina?« Ein paar Köpfe drehten sich zu mir. »Ja, warum eigentlich nicht Marina?« Auch ich lachte, weil ich das für einen Scherz hielt. Da straffte Oliver Höfinghoff (später auch im Berliner Abgeordnetenhaus) den Rücken und sagte: »Ich schlage dich jetzt vor.«
»Ich bringe dich um«, erwiderte ich.
Er grinste mich gewinnend an und ging zum Mikrophon.
»Ich schlage Marina Weisband vor.«
Der Versammlungsleiter schaute sich nach mir um: »Marina, bist du einverstanden?«
Okay. Moment mal. Was passierte hier gerade? Das war eine Kandidatur auf einen Bundesvorstandsposten. Aberda standen acht Kandidaten auf der Bühne. Acht. Kaum einer kannte mich. Warum eigentlich nicht die Chance nutzen, zwei Minuten auf der Bühne zu sprechen und zu sagen, was ich für wichtig hielt im Bezug auf die Partei? Acht Kandidaten. Darunter richtig gute. Was kann passieren? Ich trat ans Mikrofon und antwortete: »Ja.« ( Ich war eben naiv.)
Ehe ich auf die Bühne ging, musste ich nachschlagen, was eigentlich ein politischer Geschäftsführer genau ist. Dieser Posten war in der Partei neu angelegt worden und ich hatte nicht wirklich eine Vorstellung. Was mir sehr peinlich war. Das Wiki der Piratenpartei gab zu dem Thema die freundliche Auskunft: »Gibt Impulse in die Partei bzgl. Programmarbeit und politischer Ausrichtung.« Aha.
Ich hielt vor dem Saal eine etwa zweiminütige Rede, die ich spontan improvisierte und die sich mit der relativ realistischen Einschätzung dessen befasste, was ich leisten könne und was nicht. Zum Beispiel gab ich an, wegen meines Diploms nicht mehr als 20 bis 30 Wochenstunden in Parteiarbeit investieren zu können. Wie gesagt, ich war naiv. Anschließend wurden mir Fragen gestellt, die sich auch mit meinen inhaltlichen Ansichten befassten, zum Beispiel zur strukturellen Organisation der Partei oder zu meiner Einstellung zum bedingungslosen Grundeinkommen. In meinem Gedächtnis ist diese Kandidatur kaum noch präsent, ich habe sie mir erst später auf YouTube angesehen. Als ich die Bühne verließ, flüsterte der Versammlungsleiter mir zu: »Hast du die Reaktionen gesehen? Dir ist schon klar, dass du jetzt gewählt wirst?«
Es war mir nicht klar. Es war mir plötzlich furchtbar peinlich, dass ich mich nicht näher mit den Kandidaten für die anderen Ämter befasst hatte. Dass ich so wenig von den Parteistrukturen wusste. Dass ich das Bundesprogramm nur einmal überflogen hatte, aber nicht genauer recherchiert, verglichen hatte. Ich hatte auf einmal das Gefühl, einen riesigen Fehler gemacht zu haben. Als meine Wahl verkündet wurde, konnte ich mich deshalb auch nicht freuen. Ich hatte aber auch keine Zeit dazu. Plötzlich schlugen die Wellen des Amtes über mir zusammen und rissen mich mit. Der Leiter der Bundesgeschäftsstelle hielt mir eine Datenschutzerklärung unter die Nase, die ich als Amtsträger unterschreiben musste. Jemand vom ZDF war am Telefon und wollte mit mir reden. Piraten und vereinzelt Journalisten strömten auf mich ein und drückten mir Visitenkarten in
Weitere Kostenlose Bücher