Wir nennen es Politik
siebzig Wochenstunden ehrenamtlich, ich war immer knapp bei Kasse, aber ich konnte mich immer und überall auf die Hilfe und die Unterstützung meiner Partei verlassen. Es ging fast allen aktiven Piraten in dieser Zeit so wie mir. Die Ansprüche an uns waren extrem hoch. Aber irgendwie haben wir es durch Sturheit und etwas Magie bewältigt. Trotzdem konnte ich es mir irgendwann weder finanziell noch gesundheitlich leisten, diesen Dauerbetrieb aufrechtzuerhalten. Darum kandidierte ich nicht mehr für eine zweite Amtszeit.
Während in meinem Leben das alles passierte, geschah in Deutschland etwas anderes. Eine junge Idee knospte so langsam in den Synapsen in der hinteren Ecke des kollektiven Bewusstseins auf. Sie sorgte zuerst für Verwirrung, dann für Diskurs. Am Anfang wusste niemand, was die Piratenpartei eigentlich genau will – auch nicht die Piratenpartei. Was anfangs einzelne Forderungen zu sein schienen, entwickelte sich erst später – jedenfalls für mich – zu einer konsequenten Fortsetzung einer Idee, die irgendwie beinhaltet, dass alle Menschen gleichwertig, aber individuell sind; dass sie frei sein sollten, dass wir ihnen aber auch die Mittel dazu geben müssen; dass Menschen konstruktivsind, wenn sie nur die Möglichkeiten und das Vertrauen haben. Diese ideologische Grundbasis einer neuen Partei warf in der gesamten Gesellschaft die Frage nach dem politischen System auf. Kann es so bleiben, wie es ist? Gibt es Reformbedarf?
Und an dieser Stelle geht es mir nicht mehr um die Piratenpartei. Ich finde die gesellschaftliche Frage an sich gut. Diese Frage bleibt, auch wenn die Partei untergeht. Die Frage ist eine gute Frage. Ich möchte mich ihr in diesem Buch widmen.
Politische Systeme
Es ist mitten im Wahlkampf zu den Landtagswahlen NRW im Frühjahr 2012. Um genau zu sein, Samstagmorgen. Im Münsteraner Stadtteil Wolbeck ist Markt. Das heißt, dass auf dem kleinen Platz zwischen der Eisdiele und der Sparkasse ein paar Wagen stehen, in denen es Gemüse, Käse und Wurst gibt. Dazwischen kommen ein paar Piraten mit einem orange gestrichenen Bollerwagen an, stellen sich auf den Platz und legen Wahlprogramme auf einem mitgebrachten Tischchen aus. Es regnet und es ist windig. Die vier ersten Besucher des Marktes beobachten uns misstrauisch.
Ich bin mir nicht sicher, ob sich das hier wirklich lohnt, aber Sebastian, unser Kreisvorsitzender, besteht darauf. Es ist wichtig, zu den Menschen zu gehen. Kein Problem, das haben wir getan. Jetzt warten wir darauf, dass auch ein paar Menschen zu uns kommen.
Wir vertreiben uns mit Gesprächen und Scherzen die Zeit, dann werde ich ungeduldig.
»Wahlprogramme, frische Wahlprogramme! Sprechen Sie mit uns über Politik, solange wir noch unverdorben sind!«, rufe ich über den Markt und schwenke dabei ein paar Ausdrucke in der Hand. Sebastian schämt sich etwas für mich. Ich gebe nicht auf und rufe laut: »Der Münsteraner Rat hat den Bürgerhaushalt beschlossen! Bestimmen Sie mit, wofür die kommunalen Gelder eingesetzt werden!« Das Interesse ist eher mau. Ich wende mich freundlich an einen Herrn, der an uns vorbeigeht: »Möchten Sie gern mitentscheiden, wofür die Stadt Geld ausgibt?« »Nä«, sagt er knapp. Und geht weiter. Ein anderer erwidert nur mürrisch: »Die machen doch eh, was sie wollen.«
Ich kehre zu Sebastian zurück: »Die erste Hälfte der Arbeit ist getan. Wir haben die Stadt dazu gebracht, dass sie Bürger mitbestimmen lässt. Jetzt müssen wir noch die zweite Hälfte machen: die Bürger dazu bringen, dass sie mitbestimmen.«
Zwei Stunden später. Es regnet immer noch. Inzwischen haben wir mit ein paar Leuten gesprochen und die Grünen haben ihren Stand gegenüber aufgebaut. Wir plauschen miteinander. Im Straßenwahlkampf sind alle Leidensgenossen. Die SPD hat uns einen Bratenwender geschenkt. »SPD – Damit nichts schwarz wird«, steht drauf. Während ich mich noch über den Bratenwender amüsiere, nähert sich uns ein älteres Ehepaar.
»Ah, Piraten…!«, sagt der Mann so langsam, als würde er Buchstabe für Buchstabe lesen.
»Ja«, stimmen wir zu: »Möchten Sie sich vielleicht unser Wahlprogramm angucken? Oder lieber Infos zum Bürgerhaushalt? Da kann man jetzt gerade Vorschläge einreichen.«
»Ich hab ja schon von euch gehört«, sagt er, ohne unsere schönen Druckerzeugnisse zu beachten. »Ich find das gut, dass es mal frischen Wind gibt in der Politik.«
»Ja, wir bemühen uns.«
»Find ich gut! Die da oben verpfuschen das
Weitere Kostenlose Bücher