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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Weisband
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die Hand. Das Presseteam fragte, ob meine Biographie für die Presseerklärung so stimmte. Der Parteifotograf sagte, ich solle mir schnell das Gesicht waschen gehen, damit ich auf dem Foto keine Tränen aus verlaufenem Mascara im Gesicht habe.
    In diesem Trubel traf ich eine kleine, aber folgenschwere Entscheidung, die für ein ganzes Kapitel in diesem Buch verantwortlich sein würde. Das Presseteam fragte mich: »Sollen wir dir einen Politiker-Twitter-Account anlegen?« Ich erwiderte: »Nein, ich bleibe bei meinem.« Immerhin waren die Piraten damals wirklich unbedeutend. Es gab nur eine Handvoll Zeitungsartikel zu diesem Parteitag. Niemand konnte mit dem Interesse rechnen, das sich später entwickeln sollte. Darum hielt ich es nicht für notwendig, einen politischen Account anzulegen, dem ehkeiner folgen würde. Es war aber der Moment, in dem ich mich eigentlich entschieden hatte, meine politische Person nicht von meiner … nun … Person zu trennen. Ich wählte den Weg, als Mensch in die Politik zu gehen und keine gesonderte Rolle dafür aufzubauen. Dieser Ansatz machte mir später Probleme, erleichterte mir meine Arbeit aber auch in noch größerem Maße. Doch an diesem Tag erschien mir die Entscheidung nebensächlich. Wichtig war nur, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Dass ich mehr abgebissen hatte, als ich schlucken konnte. Die nächsten Stunden und Tage war ich in einem körperlichen Ausnahmezustand, zitterte und weinte. Noch wochenlang überlegte ich mir, ob Zurücktreten eine Option sei. Dann holte die Arbeit mich ein und ich bewältigte langsam ein Problem nach dem anderen. Es gab so viele Schwierigkeiten und Baustellen im Alltag der Partei, dass ich keine Zeit hatte, über die ferne Zukunft nachzudenken. Wenn es Schwierigkeiten beim LiquidFeedback gab, für das ich verantwortlich war, telefonierte ich mit den Administratoren und lernte sie näher kennen. Ich lernte, wer was machte, in dem Maße, in dem ich es gerade brauchte. Und es war beruhigend zu wissen, dass keiner der Bundesvorstände, die natürlich besser vorbereitet waren als ich, eine Ausbildung in »Bundesvorstand« gemacht hatte. Ich arbeitete mich ein und als ich bei unserem Treffen im September neue Vorschläge zum transparenten Arbeiten machte, fühlte ich mich sogar wertvoll.
    »Weißt du, Marina, egal was das jetzt wird im nächsten Jahr«, sagte damals unser Praktikant zu mir: »Es wird auf jeden Fall eines der aufregendsten Jahre deines Lebens.«
    Es gibt keine andere Politikerschule als die Politik selbst. Das Einarbeiten gelang mir ganz gut. Während Sebastian Nerz den Druck der Öffentlichkeit abfing, konnte ich mir in Ruhe Debattenkonzepte für die Partei überlegen. Im September dachte ich, dass ich doch ein ruhiges Jahr vor mir haben könnte, jetzt, da ich meiner Aufgabe gewachsen war. Wie schon erwähnt: naiv.
    Ende September zog die Piratenpartei Berlin mit 15 Abgeordneten ins Abgeordnetenhaus ein. Plötzlich sahen uns alle an und fragten sich: »Wer sind diese Leute und was wollen sie eigentlich?« Es wurde nach Menschen gesucht, die antworten konnten. Ich wurde von unserem Presseteam eingeladen, Anfang Oktober mit Sebastian Nerz und Andreas Baum von den Berliner Abgeordneten zusammen vor der Bundespressekonferenz zu sprechen. An diesem Tag hatte ich das erste Mal intensiv mit Medien zu tun – und dann gleich im ganz großen Stil. Nachdem ich meinen Kopf in einer Phase der allgemeinen Orientierungslosigkeit aus der Erde gesteckt hatte, begann die Presse, neben Sebastian auch mich verstärkt zum Phänomen der Piratenpartei zu befragen.
    Und der Rest ist Geschichte. Ich wurde von einer Welle komplett unvorbereitet auf eine Ebene der Politik gespült, die ich weder verstand noch überhaupt gekannt hatte. Ich musste mich argumentativ mit Menschen messen, die Politik seit dreißig, vierzig Jahren machten. Dabei zog ich natürlich oft den Kürzeren, konnte aber auch häufig die Positionen der Partei deutlich machen. Ich war meine eigene Sekretärin, koordinierte Termine und Telefonate, reiste viel herum. Manchmal wusste ich nicht, inwelcher Stadt ich gerade war und wozu. Ich fuhr einfach zu Adressen und beantwortete dort die Fragen, die man mir stellte. Ich wurde zu Konferenzen in teuren Hotels eingeladen und kam dort bepackt mit Koffern, in einem Mantel voller Katzenhaare und mit abgelaufenen Schuhen an. Manchmal schlief ich in diesen Hotels, manchmal auf Sofas oder Isomatten bei örtlichen Piraten. Ich arbeitete sechzig bis

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