Wir neuen Großvaeter
krochen unbemerkt von den Grenzsoldaten durch einen Stacheldrahtverhau und schlugen uns zu einem einsamen Licht am Waldrand durch. Möglich, dass uns ein Schutzengel den Weg durch den gefährlichen Sumpf gewiesen hat, denn wir kamen unbeschadet zu einem kleinen Haus. Auf unser Klopfen öffnete ein Mann die Tür, der uns schon zu erwarten schien. Jede Nacht kämen Flüchtlinge über die Grenze und bäten um Unterkunft, sagte er mürrisch. Mein Vater versprach, sich bei ihm erkenntlich zu zeigen, wenn wir erst in Frankfurt angekommen wären. Darauf brummte der Mann nur â und ich höre es noch genau: »Das sagen sie alle!« Trotzdem räumte er mir und meiner Mutter einen Platz im Bett seiner bereits schlafenden Tochter ein. Er und mein Vater verbrachten die Nacht auf dem FuÃboden.
Am nächsten Tag zockelten wir auf einem mit Stroh und Milchkannen bestückten Pferdegespann durch ein paar Dörfer in Richtung Celle. Auf dem Bahnhof â wir warteten fünf Stunden auf den Zug nach Frankfurt â kaufte mir mein Vater eine Tafel Schokolade. Es war die erste Schokolade, die ich ganz allein essen durfte. Das Silberpapier habe ich sorgfältig geglättet, gefaltet und als kostbare Trophäe noch jahrelang in einer heimlichen Schatzkiste verwahrt.
Die meisten Häuser in Frankfurt waren zerstört, eine Wohnung schwer zu finden. Wir wurden im Schifferbunker in Sachsenhausen einquartiert, einem mächtigen Betonklotz ohne Fenster und mit winzigen Zellen, in denen eiserne Stockbetten standen. Auf dem Güterbahnhof besorgten wir uns Kartoffelsäcke, die wir mit Stroh ausstopften, und auf die meine Eltern und ich unsere müden Häupter betteten.
Wenn ich meinen Enkeln von dieser Zeit erzähle, sind sie meist entsetzt. Dass GroÃvater jemals so armselig existiert hat, bedauern sie zutiefst.
Inzwischen leben wir wieder an jenem Platz, an dem früher der Bunker gestanden hat. Im Gegensatz zu damals haben unsere Zimmer hohe Fenster, aus denen wir auf einen kleinen Park und auf die Hochhäuser am Main schauen. In dem Bunker lebten wir gemeinsam mit Flüchtlingen aus Schlesien und Vertriebenen aus dem Sudetenland. Wir waren arm, doch wo wir auch hinschauten, anderen Menschen ging es ähnlich. Nur wenige hatten ein ordentliches Dach über dem Kopf. Mein Vater fand schnell eine Arbeit in einem Architekturbüro und schickte gleich nach unserer Ankunft dem alten Mann an der Grenze fünfzig Mark, als Dank für die uns gewährte Herberge.
Meine Mutter hatte beschlossen, mir zum ersten Weihnachtsfest im Westen ein Buch zu schenken. In der Buchhandlung Naacher wurde sie fündig. Eine Dame, die nicht nur Bücher feilhielt, sondern offenbar auch einem geheimen Bildungsauftrag folgte, überreichte ihr einen kleinen Band. Er war kaum gröÃer als eine Schachtel Zigaretten. Auf dem Einband stand in Goldbuchstaben Faust 1 . Unter den mit Lametta geschmückten Tannenzweigen habe ich es kaum entdeckt. Inzwischen weià ich, dass es das wertvollste Geschenk war, das ich in meinem Leben bekommen habe.
Nach dem Kindergottesdienst am ersten Weihnachtstag näherte ich mich zögernd diesem Werk der Weltliteratur. Ich hätte es so schnell nicht angefasst, wäre ich anderweitig beschäftigt gewesen. Wir hatten kein Radio, keinen Plattenspieler, und an das Fernsehen war damals nicht zu denken. Also versuchte ich mühsam, die kryptischen Buchstaben zu entziffern: »Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten ...« Kein
Germanist hat mich auf den Faust vorbereitet, niemand hat mir Handlung und Symbolik dieses Dramas erklärt. Von Goethe kannte ich bisher nur die GoethestraÃe und den Goetheturm im nahen Stadtwald.
So stürzte ich mich als achtjähriger Bub frohgemut »ins volle Menschenleben« und fand bald Gefallen an dem Text, den ich meinen Eltern lautstark vortrug.
Im Dezember hatte ich das Büchlein bekommen, an meinem neunten Geburtstag war ich über den Monolog im Studierzimmer hinaus: »Habe nun, ach!« Pünktlich zum Osterfest deklamierte ich »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche« an jener Stelle, wo Goethes »Osterspaziergang« stattgefunden haben soll: auf dem Sachsenhäuser Berg, mit Blick auf die Felder und den ruhig dahinflieÃenden Main.
Nach einem knappen Jahr konnte ich Faust I auswendig.
Ich war kein Wunderkind, doch ich hatte schnell begriffen, dass sich beim Faust â wie man in
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