Wir neuen Großvaeter
zwanzig Pfennig konnte ich ein Heft erstehen, das voller Fettflecken und Eselsohren war.
Zum Schmökern hatte ich mir einen stillen Platz reserviert. Trümmer sind ein idealer Nährboden für allerlei wild wachsende Pflanzen. Und so war dort, wo einstmals das mehrstöckige Wohnhaus gestanden hatte, ein mächtiger Holunderbaum gewachsen. Im Frühling schnupperte ich den Duft der zarten, weiÃen Blüten. Im Sommer pflückte ich die dunklen Beeren, die an dünnen Zweigen hingen. Meine Mutter presste daraus wundervollen Holundersaft, der im Winter gegen manch ein Zipperlein in der Familie eingesetzt wurde.
Da saà ich nun in meinem Baum und lieà mich von Roald Amundsen und seinem Rivalen Robert Falcon Scott mit zum Südpol nehmen â ein lebensgefährliches Unterfangen, wie sich bald herausstellen sollte.
Vom Drama um den Untergang der Titanic hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Das tragische Schicksal des riesigen Schiffes beeindruckte mich so sehr, dass ich beschloss, die Tragödie zu rekonstruieren.
Der Kohlenkeller meiner Eltern war für uns alle ein Fluchtpunkt, wenn es mal regnete und wir nicht im Hinterhof spielen konnten. Oder wenn wir von missgünstigen Nachbarn verfolgt wurden, die uns das Spielen im Hof verbieten wollten.
Zwischen Briketts und aufgestapeltem Feuerholz hingen ein paar Bottiche aus Zink, die ich für das Titanic -Abenteuer zu Rettungsbooten umfunktioniert hatte. Es müssen etwa zwölf Jungen und Mädchen gewesen sein, die sich in dem schwach beleuchteten Kellerloch zusammendrängten, um eine der gröÃten Katastrophen der christlichen Seefahrt hautnah mitzuerleben. Der Jüngste an Bord war Freddy, der zwei Jahre alt war, stets eine Rotznase hatte und mit Windeln gegen die Fährnisse des Lebens gewappnet war.
Mit Grabesstimme begann ich nun die Geschichte von jenem stolzen Schiff zu erzählen, das an einem kalten Apriltag im Jahre 1912 in Southampton mit Tausenden von Passagieren ablegte, um wenig später im Nordatlantik innerhalb weniger Stunden in die grausame Tiefe gezogen zu werden. Ich imitierte den Klang des Nebelhorns, das Stampfen der Maschinen und auch den Schreckensruf des Ausgucks: »Eisberg backbord voraus!«
Hätte ein zufällig vorbeikommender Hausbewohner einen Blick durch die Holzlatten in den Keller geworfen, er hätte vergeblich nach einem Eisberg Ausschau gehalten. Doch Freddy, Gottfried, Karin, Waltraud, Hans-Peter, Horst und alle anderen sahen die Gefahr geradezu auf sich zukommen. Als der Kapitän lautstark: »Ruder hart steuerbord« und »Volle
Kraft zurück« rief, war ihnen der Ernst der Lage endlich bewusst. In diesem Moment verlöschten auf dem todgeweihten Schiff sämtliche Lichter. Aus dramaturgischen Gründen hatte ich blitzschnell die Funzel an der Kellerdecke ausgeschaltet.
Wie weiland auf dem Dampfer brach nun auch bei uns das Chaos aus. Menschen schrien in Panik und flüchteten Hals über Kopf zu den bereitstehenden Zinkwannen, um ihr Leben zu retten. Im allgemeinen Durcheinander verbreitete sich schnell ein intensiver Geruch, sodass ich mich entschloss â anders als bei den armen Passagieren auf der Titanic â, das Licht wieder einzuschalten. Die Bescherung war deutlich zu riechen: Freddy hatte aus Angst um sein Leben in die Hosen gemacht.
Ich erinnere mich an diesen Moment mit Stolz. Niemals wieder hatte eine meiner Geschichten bei meinen Zuhörern einen so durchschlagenden Erfolg.
Der Hinterhof eignete sich für die unterschiedlichsten Inszenierungen. Er diente zum Beispiel als endlose Prärie mit ihren Scharmützeln zwischen Cowboys und Indianern. Ein anderes Mal war er Schauplatz für unsere Olympischen Spiele mit Wettkämpfen im 100-Meter-Lauf und Gewichtheben. Auf der Schreibmaschine meines Vaters tippte ich regelmäÃig eine »Hofzeitung«, und wir hatten unser eigenes Geld: die Königs-Mark. Die Scheine druckte ich mit den Stempeln aus der Kinderpost. Damit wurde im Hof gehandelt. Groschenhefte, Blechspielzeug, Marmeladenbrote und Anstecknadeln von der Rüdesheimer Drosselgasse wechselten für Königs-Mark ihre Besitzer. Wenn ich mal nicht flüssig war, druckte ich mir einfach neue Scheine.
Eines Tages wurden meine Freunde und ich mit einer bitteren Lebensweisheit konfrontiert: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!
In unserem Fall war der böse
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