Wir sehen uns in Paris
nicht. Julis Ticket geben wir zurück. Ende. Aus.« Seine Hand sauste noch einmal mit einem Rums herunter, dann blieb sie auf der Tischplatte liegen, als wüsste mein Vater nicht mehr, was er damit anfangen sollte. Wir alle starrten ihn an. So viele Worte auf einmal hatte er schon länger nicht mehr gesagt.
»Das könnt ihr nicht machen!«, kreischte Juli in die Stille hinein, die auf den Ausbruch meines Vaters gefolgt war. Und dann erging sie sich in höchsten Tönen darüber, dass diese Reise ihr gutes Recht sei, weil sie hart dafür geschuftet habe (was nicht ganz stimmte, denn sie hatte zwar ein tolles Abizeugnis bekommen, aber eigentlich musste sie nie groß für ihre guten Noten lernen), und dass sie volljährig sei und unsere Eltern ihr nichts verbieten könnten …
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn in meinem Kopf fuhren die Gedanken plötzlich Karussell. Ausgelöst durch das kleine Wörtchen »Ticket«, hatte sich ein Denkprozess in Gang gesetzt, der ungefähr so aussah: Das einzige Europakonzert von No Way würde in vier Wochen in Barcelona stattfinden, im größten Stadion Europas. Für mich war es somit bisher unerreichbar gewesen, zumal sämtliche Tickets innerhalb der ersten acht Stunden nach Bekanntgabe der Pläne von No Way restlos ausverkauft waren. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht hatte ich ja Glück und konnte vor der Konzerthalle noch ein Ticket ergattern. Vorausgesetzt ich schaffte es, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und das erschien mir plötzlich gar nicht mehr so unmöglich wie noch bis vor ein paar Minuten …
»Okay«, sagte ich mitten in Julis Gezeter hinein. Und weil mich niemand hörte, wiederholte ich lauter: »Okay, ich komme mit.«
Juli klappte ihren Mund auf der Stelle zu und starrte mich mindestens ebenso verblüfft an wie meine Eltern.
»Wie bitte?«, stieß sie schließlich so atemlos hervor, als hätte jemand die Luft aus ihr herausgelassen.
»Im Ernst?«, fragte meine Mutter gleichzeitig.
Nur mein Vater sagte natürlich nichts, sondern nickte mir nur mit einem kleinen, anerkennenden Lächeln zu.
»Ja«, bekräftigte ich. »Ich fahre mit, damit Juli ihre Tour nicht absagen muss. Ich habe nur eine Bedingung.«
»War ja klar«, ätzte Juli sofort, aber meine Mutter bedeutete ihr mit einer Handbewegung, mal für einen Moment die Klappe zu halten.
»Was für eine Bedingung?«
»Ich will in vier Wochen in Barcelona sein«, sagte ich so fest wie möglich und kam mir vor wie ein Pokerspieler, der sein ganzes verbliebenes Geld setzt – allerdings habe ich noch nie Poker gespielt und weiß von daher nicht, ob es sich wirklich genauso anfühlt.
»Das Abschiedskonzert von No Way .« Juli stöhnte und verdrehte die Augen wie vorhin unsere Mutter.
»Ja. Was dagegen?« Jetzt verschränkte ich die Arme und funkelte Juli herausfordernd an. Die grummelte irgendetwas Unverständliches, doch unsere Mutter klatschte bereits begeistert in die Hände und sprang auf.
»Das klingt nach einem guten Kompromiss. Dann müssen wir jetzt nur noch ein zusätzliches Ticket für Lena besorgen und schon kann es losgehen. Meine beiden großen Mädchen auf Reisen. Fantastisch.« Tatendurstig rieb sie sich die Hände, als wolle sie sofort zum Bahnhof fahren, um die Fahrkarte zu besorgen. Julis Grummeln ignorierte sie ebenso wie meine bockige Haltung, stattdessen schien sie still in sich hineinzulächeln. Fast hätte man meinen können, dass sie irgendeinen Plan verfolgt hatte, der gerade aufgegangen war.
Ich hingegen war noch immer hin- und hergerissen. Klar, ich hatte die einmalige Chance, No Way live zu erleben – oder zumindest konnte ich in ihrer Nähe sein. Aber der Preis, den ich dafür zahlen musste, würde verdammt hoch sein: vier Wochen on tour mit meiner grässlichen Schwester!
Schlimmer geht immer. An dem Spruch ist schon was dran. Und die Steigerungsform von schlimmer ist meine Schwester!
aus Lenas Tagebuch
»Meine Damen und Herren, auf Gleis 5 fährt ein: Intercity Express 128 von Frankfurt Hauptbahnhof nach Amsterdam Centraal über Oberhausen Hauptbahnhof. Abfahrt zehn Uhr sechsundvierzig. Nächster Halt Ihres Zuges ist Düsseldorf Hauptbahnhof. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.«
»Habt ihr auch alles? Ausweise, Tickets, Geld …?« Die Stimme meiner Mutter überschlug sich fast.
Zum gefühlt hundertsten Mal in den letzten zehn Minuten klopfte ich auf den hässlichen Brustbeutel, den sie mir aufgedrängt und den ich wohlweislich gut unter meinem T-Shirt
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