Wir sehen uns in Paris
Bewegung setzte. Ich nahm meinen Krimskramsrucksack auf den Schoß und begann, darin nach meinem iPod und meiner Reiselektüre zu kramen. Da ich unmöglich meinen ganzen Stapel ungelesener Bücher mitschleppen konnte, hatte ich mich einfach entschieden, nur meinen abso luten Lieblingsroman einzupacken: »Stolz und Vorurteil« von Jane Austen. Ich las ihn bestimmt schon zum fünften Mal und fand die Geschichte immer noch ultraromantisch.
»’tschuldigung, ist hier noch frei?«
Neben mir richtete Juli sich augenblicklich aus ihrer Fläzhaltung auf und rückte sich und ihren ansehnlichen Vorbau in eine vorteilhaftere Position. Ich unterbrach meine bislang vergebliche Suche nach Buch und iPod, um mir anzuschauen, wer das wissen wollte. Es war ein Typ in Julis Alter, Marke Surferboy, mit schulterlangen, hellblonden Haaren und einem beeindruckenden Bizeps, der dank eines ärmellosen Muskelshirts auch dem flüchtigen Betrachter sofort auffallen musste. Logisch, dass der Kerl bei meiner Schwester einen Hormonschub auslöste.
»Für dich immer«, flötete sie und wurde sofort mit einem Lächeln belohnt, so breit, dass ein Surfbrett quer reingepasst hätte. »Es könnte allerdings unten rum ein bisschen eng werden«, fügte sie hinzu und klimperte vielsagend mit ihren langen Wimpern. Würg!
Ich muss mal kurz etwas klarstellen: Meine Schwester ist nicht billig, auch wenn man bisher vielleicht den Eindruck bekommen hat. Sie sieht toll aus, sie zieht sich immer topmodisch an und ihre Wirkung auf das andere Geschlecht ist entsprechend durchschlagend. Leider weiß sie das auch. Sie hatte schon so viele Freunde, dass meine zwei Hände nicht ausreichen würden, um sie alle an den Fingern abzuzählen, die Zehen müsste ich mindestens noch dazunehmen. Keine ihrer so genannten Beziehungen hielt länger als ein oder zwei Monate, dann hat sie jeden noch so vielversprechenden Kandidaten wieder abgeschossen. Meine Schwester ist – vorsichtig ausgedrückt – sehr spontan. Dass es allerdings keine fünf Minuten dauerte, bis sie auf dieser Tour einen neuen Flirt an Land gezogen hatte, war selbst für Juli ein Rekord.
»Das Problem sollten wir in den Griff bekommen«, entgegnete Surferboy und das Surfbrettlächeln wurde noch ein bisschen breiter. Innerhalb von Sekunden hatte er den Rucksack unter dem Tisch rausbugsiert und auf die Gepäckablage geworfen, als würde das Teil rein gar nichts wiegen. Sein eigenes Gepäck folgte, dann ließ er sich auf den Sitz gegenüber von Juli fallen und stellte sich vor – zumindest Juli, denn mich schien er gar nicht zu bemerken, aber das war ich schon gewohnt.
»Tobias«, sagte er, noch immer mit diesem Dauergrinsen im Gesicht. »Und das ist mein Kumpel Felix.« Er deutete auf einen zweiten Typen, der sich in diesem Moment durch den Gang zu unserem Vierersitz durchschob.
Im Vergleich zu Mr Sonnenschein wirkte sein Kumpel auf den ersten Blick wie ein unscheinbares Brötchen, okay, ich korrigiere: ein süßes Brötchen mit dicker, schokobrauner Glasur, äh, Haaren, aber seine riesige schwarzrandige Brille stempelte ihn unverkennbar als Nerd ab.
»Hi«, sagte das Schokobrötchen und setzte sich neben Surferboy.
»Hi, Felix«, begrüßte meine Schwester den Neuankömmling erwartungsgemäß mit weit weniger Enthusiasmus.
»Und, wohin wollt ihr?«, fragte Tobias, worauf ich mich schnell wieder meinem Rucksack zuwandte. Die Zugfahrt nach Amsterdam würde knapp drei Stunden dauern, und ich hatte nicht vor, sie mit sinnlosem Smalltalk zu verbringen. Endlich stieß ich auf meinen iPod und steckte mir dankbar die Stöpsel in die Ohren. Auch mein Buch traute sich schließlich aus seinem Versteck, und mit Joey im Ohr tauchte ich in die Geschichte von Elizabeth, genannt Lizzy, ein, die über sehr viele Umwege und Verstrickungen zu ihrem Mr Darcy findet. »Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender braucht als eine Frau«, las ich und dachte: Hach, wenn das doch immer so einfach wäre!
Erst kurz hinter Oberhausen wurde ich wieder ins wirkliche Leben zurückkatapultiert, als Juli mich unsanft in die Seite stieß. Ich schaute hoch und entdeckte den Schaffner, der bereits etwas ungeduldig darauf zu warten schien, dass ich endlich meine Fahrkarte rausrückte. Ich nestelte den Brustbeutel heraus, der sich natürlich mit den Kabeln des iPods verhedderte, und es dauerte eine Ewigkeit, in der ich garantiert rot anlief, bis ich endlich die
Weitere Kostenlose Bücher