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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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überlegte, wie sie sie ansprechen sollte.
    Charlottes Aufmerksamkeit galt der zur Leinwand umfunktionierten gefliesten Wand. Der uralte Film, der ihr völlig unbekannt war, zeigte eine Szene aus einem Spielcasino. Abgesehen
davon, dass Filme heutzutage bunter waren und sich die Spieler nicht wie Marionetten bewegten, hätte die Szene auch aus der Gegenwart stammen können: eine große Roulettescheibe, Croupiers mit langen Stäben, mit denen sie die Jetons der Spieler herumschoben, Scharen von elegant gekleideten Männern und Frauen, die dem Lauf der Kugel, rauchend und trinkend, gebannt folgten. Die Kamera konzentrierte sich auf eine unheimliche Gestalt, einen schlanken Mann mit blassem Gesicht, scharf geschnittenen Zügen und Fingern, die irgendwie an Spinnenbeine erinnerten - wahrscheinlich der Hauptdarsteller -, aber Lena interessierte weit mehr die dunkelhaarige Schönheit neben ihm. Was sie da sah, konnte sie kaum fassen.
    »Dr. Mabuse, der Spieler«, sagte Charlotte. »Ein schrecklicher Schinken, selbst für die damalige Zeit.«
    Lena hörte kaum hin. Ihr Blick hing wie gebannt an Charlottes seitenverkehrtem Schwarz-Weiß-Spiegelbild an der Wand. Es sah keinen Tag jünger aus als die Frau, die neben ihr auf der Chaiselongue nun doch an ihrer Zigarette zog. Die Asche fiel herunter.
    »Ich war eine schrecklich unbegabte Schauspielerin und zu Recht kein bisschen erfolgreich.« Charlotte lachte, sehr leise und sehr traurig. »Den Tonfilm hätte ich nie überlebt.«
    Lena starrte immer noch die ruckelnden Bilder an. Sie war … schockiert. Es war eine Sache, etwas zu wissen, und eine ganz andere, es zu sehen. Dieser Film musste beinahe hundert Jahre alt sein, und seine Hauptdarstellerin saß neben ihr und war um keinen einzigen Tag gealtert!
    »Bei der Premiere sind Louise und ich uns das erste Mal begegnet«, fuhr Charlotte fort. »Mein Mann und meine kleine Tochter waren schon nach Hause gefahren.«
    »Und du sahst einfach wunderschön aus«, sagte Louises Stimme hinter ihnen.

    »Hättest du mich sonst gebissen?«, fragte Charlotte. Sie starrte immer noch die Bilder an, die der Beamer auf die Wand warf.
    »Oder Nora? Oder Lena?«
    »Willst du mir meinen guten Geschmack vorwerfen?«, erwiderte Louise schnippisch. »He, verdirb uns nicht den schönen Abend.« Sie machte eine flatternde Handbewegung in die Runde. »Das alles hier ist deine Idee gewesen, und es kommt hervorragend bei den Leuten an! Freu dich einmal ein bisschen, du kleiner Miesepeter!«
    »Wo wir doch alle so schrecklich vergnügt sind, nicht wahr?«, sagte Charlotte bitter.
    »Ach, Liebes …«, begann Louise, aber Charlotte sprang aufgebracht hoch.
    »Dann amüsiert euch noch gut«, fauchte sie. »Mir ist die Lust am Feiern gründlich vergangen. Aber lasst euch bloß nicht stören!«
    Sie warf ihre Zigarette samt der Perlmuttspitze auf den Boden, zertrat beides mit dem Absatz und stapfte davon. Louise sah ihr betroffen nach, und auch etliche der anderen Gäste folgten ihr mit fragenden Blicken. Lena fiel erst jetzt auf, dass sie sogar dasselbe Kleid wie im Film trug.
    Sie wollte Charlotte nacheilen, aber Louise hielt sie zurück. »Lass sie«, sagte sie.
    »Ich dachte, ihr seid so gute Freundinnen?«
    »Das sind wir auch.« Louise klang ein bisschen verletzt. »Aber es gibt Momente, in denen man am besten allein ist, weißt du?«
    »Nein«, antwortete Lena. »Weiß ich nicht.« Louise sah sie nur traurig an, und nach einem Moment hatte Lena schon wieder ein schlechtes Gewissen und fuhr fort: »Hat es irgendetwas mit heute Morgen zu tun?«
    Louise blickte sie lange schweigend an und schüttelte dann
den Kopf. »Andersherum«, sagte sie. »Heute Morgen hat mit dem hier zu tun.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    Louise deutete auf den Film. »Heute ist ihr Jahrestag. Die Premiere, von der sie gerade gesprochen hat. Es ist heute auf den Tag genau einundneunzig Jahre her.«
    »Und das war der Tag, an dem du sie …?«
    »Zieh jetzt keine falschen Schlüsse. Charlotte ist mir für jeden einzelnen Tag dieser einundneunzig Jahre dankbar, glaub mir. Aber sie ist nun einmal eine unverbesserliche Romantikerin. Einer der Gründe, weshalb ich mich damals sofort in sie verliebt habe.«
    »Und jetzt?«
    »Liebe ich sie immer noch, wenn du das wissen willst.« Louise wirkte unangemessen amüsiert.
    »Und Nora?« Und mich? Diese Frage wagte sie nicht laut auszusprechen, aber das war auch nicht nötig.
    »Kannst du dir nicht vorstellen, dass man in einem so langen

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