Wir sind die Nacht
Ich komme gleich nach, und dann führen wir zur Abwechslung mal ein Gespräch unter Erwachsenen!«
Nora funkelte sie noch kurz trotzig an, aber dann lud sie sich Charlotte gehorsam auf die Arme und trug sie so mühelos hinaus, als wöge sie nicht mehr als eine Stoffpuppe.
»Was hast du damit gemeint?«, fragte Lena.
»Dass ich mit Nora ein Gespräch unter Erwachsenen führen möchte?« Louise zog eine Grimasse. »Ja, das stimmt. Das ist reines Wunschdenken, fürchte ich.«
»Das meine ich nicht«, antwortete Lena. »Was bedeutet das mit dem Zustand, in dem sich Charlotte manchmal befindet?«
»Ach, das.« Louise machte eine wegwerfende Geste. »Sie hat manchmal … Probleme.«
»Was für Probleme?«
»Probleme eben«, sagte Louise unwirsch. »Sehr private Probleme, wenn du es genau wissen willst.« Sie stand auf. »Wir respektieren
die Privatsphären der anderen. Wenn man so lange und so intim zusammenlebt, wie wir es tun, dann geht das nicht anders.«
»Das heißt, du willst es mir nicht sagen?«
»So ist es«, antwortete Louise geradeheraus. »Vielleicht erzählt es dir Charlotte irgendwann, aber wenn sie es nicht von sich aus tut, werde ich es dir ganz gewiss nicht verraten. Und Nora auch nicht.« Sie zwang sich ein unechtes Lächeln auf die Lippen und streckte die Hand aus, um Lena beim Aufstehen behilflich zu sein. »Komm. Nehmen wir noch einen Absacker, dann schläft es sich besser.«
Lena spielte kurz mit dem Gedanken, die dargebotene Hand auszuschlagen, sagte sich dann aber, dass das albern wäre, und ließ sich von Louise auf die Beine ziehen; und dann zur Bar. Louise ließ ihre Hand auch dann noch nicht los, sondern ging um die Bar herum, öffnete den Kühlschrank und nahm zwei tiefgekühlte Gläser heraus.
»Danke, dass du mich hergebracht hast«, sagte Lena. »Aber bis auf den Hocker hinauf schaffe ich es selbst.«
Louise sah sie mit gespielter Verständnislosigkeit an, stellte dann mit der linken Hand die beiden Gläser auf den Tresen und ließ endlich Lenas Rechte los. Allerdings nicht, ohne flüchtig mit dem Daumen über ihre Handfläche zu streichen. Es kribbelte. Angenehm.
Louise lächelte und leerte ihr Glas, und Lena tat es ihr hastig gleich. Der gewaltige Kick, auf den sie wartete, blieb aus, aber es tat ungemein wohl. Wärme und ein Gefühl schier unbezwingbarer Kraft begannen sich in rhythmischen Wellen in ihr auszubreiten.
»Du hast da was«, sagte Louise. »Es ist nur ein Tropfen. Warte, ich mache ihn weg.«
Lena wollte die Hand heben, aber Louise hielt ihren Arm fest. Ihr Gesicht kam näher. Lena wollte den Kopf wegdrehen,
aber sie konnte es nicht. Louises Blick lähmte sie, und sie musste dazu nicht einmal ihre überlegenen mentalen Kräfte einsetzen. Louises Lippen berührten ihren Mund, und langsam, unendlich zärtlich, nahm ihre Zungenspitze den einzelnen roten Tropfen auf, der in Lenas Mundwinkel hing. Die Bewegung jagte einen kribbelnden Schauer nach dem anderem durch ihren Körper. Ihr Atem beschleunigte sich, und Louises Lippen schmeckten plötzlich so unendlich süß …
Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, Louise von sich zu stoßen.
»Lass das!«, keuchte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, als hätten ihre Lippen etwas Unreines berührt. »Ich mag das nicht!«
Louise strahlte sie an, als wüsste sie ganz genau, wie unecht diese Behauptung war. »Woher willst du das wissen?«, fragte sie. »Du hast es doch noch gar nicht ausprobiert.«
»Und das werde ich auch ganz bestimmt nicht.«
»He, beschwer dich nicht«, sagte Louise. »Ich habe dir gesagt, dass ich es versuchen werde.«
»Und ich habe dir gesagt, dass es keinen Zweck hat«, antwortete Lena.
»Ja, das hast du. Aber ich bin eine sehr geduldige Frau. Lass mir ein bisschen Zeit.«
»Zehn Jahre?«, sagte Lena böse.
Louise nickte. »Oder auch zwanzig?« Sie streckte die Hand nach Lenas Gesicht aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als Lena erschrocken zusammenfuhr. Dann schlug sie sich mit der linken Hand so fest auf die ausgestreckte Rechte, dass ihre Finger rote Striemen darauf hinterließen. »Böse Louise«, sagte sie glucksend, schüttelte den Kopf und schlug noch einmal zu. »Böse, böse, böse Louise.«
20
Aus den großen Lautsprecherboxen drang sanfte Big-Band-Musik, und statt psychedelischer Lichtreflexe simulierte die Laseranlage jetzt den optischen Schneesturm einer altmodischen Discokugel, die aber zu den Gästen passte, die auf dem Boden des
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