Wir sind die Nacht
Leben, wie wir es führen, mehr als einen Menschen lieben kann?«, sagte sie. »Bis dass der Tod uns scheidet, ich weiß, aber das hat doch heute nicht einmal mehr für Menschen Bedeutung. Die Regel stammt aus einer Zeit, in der die Leute dreißig Jahre alt geworden sind.« Sie hob die Schultern. »Du glaubst doch nicht etwa, dass sie für jemanden Gültigkeit haben kann, der dreißig tausend Jahre lebt, oder?«
»Sie wäre heute Morgen fast gestorben«, sagte Lena ernst.
»Charlotte?« Louise schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«
»Sie hat gebrannt.«
»Das habe ich auch schon, und Nora ebenfalls«, sagte Louise leichthin. »Und dir wird es auch noch das eine oder andere Mal passieren, freu dich schon mal drauf. Es ist unangenehm, aber mehr auch nicht.«
»Hast du mir nicht erzählt, die Sonne könnte uns töten?«
»Das kann sie auch.« Louise trat einen Schritt zur Seite und geriet dabei in den Strahl des Beamers, der das scharf geschnittene Raubvogelgesicht Dr. Mabuses über das ihre projizierte, was ziemlich unheimlich war. Dann wechselte das Bild, und Charlottes neunzig Jahre jüngeres und doch unverändertes Antlitz verschmolz für einen kurzen Moment mit Louises Zügen. »Aber so schnell geht es nun auch wieder nicht. Aber he, jetzt ist nicht der Moment, um Trübsal zu blasen. Es ist ein so schöner Abend. Lass uns feiern.«
Sie streckte die Hand nach Lena aus, ließ die Bewegung aber unvollendet, als sie sah, wie Lena sich versteifte.
»Ich verstehe. Dir ist nicht nach Feiern.«
»Ich … möchte dich um etwas bitten«, sagte Lena.
»Worum auch immer, es ist schon erfüllt.«
Da war sich Lena nicht ganz sicher. »Hast du … noch was von diesem Russen gehört?«, fragte sie zögernd. »Von Stepan?«
»Nein.« Louise schüttelte den Kopf. »Warum?«
»Wegen vorgestern. Sie waren in unserer Wohnung. Seine Schlägertypen, meine ich. Sie haben meine Mutter bedroht.«
»Das ist vorbei. Ich habe mit ihm geredet. Er wird dich und deine Familie in Ruhe lassen, glaub mir. Er weiß, was ihm sonst blüht.«
»Er ist ein Strigoi«, sagte Lena. »So wie ihr.«
»Aber ich bin weit stärker als er«, antwortete Louise mit einer Selbstverständlichkeit, die nur aus unerschütterlicher Überzeugung geboren sein konnte. »Und er weiß das, keine Angst.«
»Trotzdem.« Lena nahm all ihren Mut zusammen. »Gib mir Geld.«
Louise sah überrascht aus, griff dann aber in den Ausschnitt ihres Kleides.
Lena schüttelte hastig den Kopf. »Nicht so«, sagte sie. »Ich brauche … viel Geld. Alles, was du mir geben kannst.«
»Willst du deinen Wagen neu lackieren lassen?«, fragte Louise spöttisch. »So teuer ist das nicht. Und die Rechnung schicke ich sowieso an Stepan. Er kann sie seinem missratenen Sohn ja vom Taschengeld abziehen.«
»Es geht um meine Mutter.«
»Deine Mutter? Aber ich dachte …«
»Dass wir kein besonders gutes Verhältnis haben, ja«, sagte Lena. »Ist auch so. Aber sie ist nun mal meine Mutter, und ich will nicht, dass ihr irgendwas passiert, so einfach ist das.«
Louise betrachtete sie ein paar Sekunden. »Stepan wird ihr nichts tun«, sagte sie dann. »Aber darum geht es auch gar nicht, hab ich recht? Du willst, dass sie aus der Stadt verschwindet. Unseretwegen. Hast du Angst, sie könnte eines Tages hier auftauchen und uns sehen?«
Das war nahe genug an der Wahrheit, um Lena verlegen den Blick senken zu lassen. Wenn man es genau nahm, war es die Wahrheit.
»Glaubst du wirklich, ich verstehe das nicht?«, sagte Louise unerwartet sanft.
Als sie auch darauf keine Antwort bekam, drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand mit schnellen Schritten.
Lena blieb völlig verstört zurück. So viele Lügen, so viele Geheimnisse! Sie fragte sich, wie vieles von dem, was Louise ihr bisher erzählt hatte, überhaupt wahr war … Ihr Blick folgte wieder für eine Weile den unscharfen, wackelnden Bildern an der Wand vor ihr. Charlotte war nicht mehr zu sehen, aber für Lena war sie trotzdem da, und natürlich wusste sie, dass die Erklärung nicht so einfach war, wie Louise ihr weiszumachen versucht hatte. Was sie in Charlottes Augen gelesen hatte, das war nicht nur ein Anfall von Melancholie gewesen, sondern mehr; ein Schmerz, der sich so tief in ihre Seele gegraben hatte, dass ihr selbst die Narbe noch unerträgliche Pein bereitete.
Louise kam nach kaum zwei Minuten mit einem braunen
Umschlag in der Hand zurück. »Das ist alles, was in der Kasse war«, sagte sie, fast als
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