Wir sind die Nacht
nur recht sein. »Bringst du mich jetzt zum Wagen?«
»Aber mit dem größten Vergnügen, Mylady.« Tom verbeugte sich übertrieben tief und hielt ihr dann galant den angewinkelten Arm hin, damit sie sich einhaken konnte. Lächelnd nahm sie die Einladung an, und sie gingen los.
Es war ein … sonderbares Gefühl. Lena war noch immer hoffnungslos überrascht, Tom zu sehen - ausgerechnet hier, und gerade jetzt! -, und da war auch eine leise, misstrauische Stimme hinter ihren Gedanken, die ihr klarzumachen versuchte, dass hier irgendetwas nicht ganz koscher war und sie sehenden Auges in eine Falle tappte, aber sie achtete nicht darauf. Tom war hier, und das war in diesem Moment alles, worauf es ankam.
Ganz plötzlich wurde ihr klar, wie sehr sie ihn in den letzten Tagen vermisst hatte. Und das war natürlich noch viel sonderbarer. Sie kannte diesen Jungen ja kaum, und darüber hinaus war er Polizist und somit so etwas wie ihr natürlicher Feind.
Und dennoch jubilierte ihr Herz bei dem bloßen Gefühl seiner Nähe.
Was hatte Louise gerade über Charlotte gesagt: eine unverbesserliche Romantikerin?
Was bitte schön war sie denn dann?
»Warum bist du hier?«, sagte sie, nachdem sie eine Weile nebeneinander hergegangen waren. »Und erzähl mir nicht, das wäre nur ein unglaublicher Zufall!«
»Wer weiß?«, erwiderte Tom. »Wenn es so etwas wie Zufall nicht geben würde, warum hätte man dann dieses Wort erfinden sollen?«
»Ja, du bist wirklich ein Bulle«, seufzte Lena. »Nie eine konkrete Antwort geben, aber selbst tausend Fragen stellen. Also
jetzt raus mit der Sprache, und denk dran: Alles, was du von jetzt an sagst, kann und wird vor Gericht gegen dich ausgelegt werden.«
»Und das, was ich nicht sage, auch«, stimmte ihr Tom zu. »Ganz besonders das, was ich nicht sage.«
»Möchtest du einen Anwalt?«, fragte Lena, lachte leise und wollte noch mehr sagen … aber plötzlich war da etwas; ein vages Gefühl, das sie störte, ohne dass sie wusste, warum.
»Vielleicht kriege ich ja mildernde Umstände, wenn ich ein Geständnis ablege?«
»Vielleicht.« Das Gefühl war immer noch da, und es wurde stärker. Etwas war hier, was nicht hierher gehörte.
Als sie die Ecke fast erreicht hatten, blieb Tom stehen und machte seinen Arm frei. »Aus zwei Gründen«, sagte er, während er den Reißverschluss seiner Jacke aufzog und ein in buntes Papier eingeschlagenes Päckchen hervorzog. Es hatte sogar eine Schleife, auch wenn sie durch die Art, wie er es vor dem Regen geschützt hatte, hoffnungslos zerdrückt war. Etwas starrte sie an. Etwas Böses.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Deine Klamotten«, antwortete Tom. »Ich hab sie aus dem Kanal gefischt. Wäre doch wirklich schade drum. Ich hätte sie auch gewaschen, aber meine Maschine ist kaputt.« Jetzt war sein Lächeln das eines verlegenen Sextaners, der nicht so genau wusste, wie er seiner Lehrerin eine Liebeserklärung machen sollte. »Willst du sie trotzdem wiederhaben … sozusagen als Erinnerung an unser erstes Date?«
»Das, bei dem ich dir in die Eier getreten habe?«, sagte Lena treuherzig.
»Hm«, machte Tom. Etwas in seinem Blick irritierte sie mit jeder Sekunde mehr. Sie sah ihm an, wie sehr er ihr etwas sagen wollte, wozu er einfach nicht den Mut aufbrachte. Vielleicht sollte sie ihm die Mühe ja abnehmen.
Nur dass sie es nicht konnte. Das Gefühl des Angestarrtwerdens war immer noch da, und es wurde immer noch stärker und bedrohlicher. Da war etwas Feindseliges und unvorstellbar Starkes, das jede ihrer Bewegungen aufmerksam beobachtete, jedem ihrer Worte misstrauisch lauschte, vielleicht sogar jedem ihrer Gedanken.
Sie nahm ihm das Päckchen ab und klemmte es sich unter den Arm. »Und woher hast du gewusst, wo du mich findest?«
»Das war leicht. Wir beobachten diesen Laden schon eine ganze Weile. Und als die Russen dann deine Wohnung auseinandergenommen haben …«
»Die Russen?«, entfuhr es Lena. »Aber was hat Louise denn …« Sie verbesserte sich, obwohl sie es damit natürlich nur schlimmer machte. »Was hat der Club denn mit irgendwelchen Russen zu tun?«
»Vielleicht nichts«, antwortete Tom, auch wenn sein Blick etwas anderes sagte. »Aber es könnte sein, dass deine neuen Freunde aus dem Ural es darauf abgesehen haben.«
»Auf einen harmlosen Nachtclub?«
»Der Laden ist eine Goldgrube. Und bevor du jetzt auf falsche Gedanken kommst - soweit wir wissen, läuft hier alles ganz legal ab. Aber gerade das macht ihn für gewisse
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