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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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sondern stand noch immer draußen auf dem Balkon. Ihre Gestalt flimmerte, als wäre sie von einer Säule kochend heißer Luft umgeben. Winzige blaue Flämmchen schlugen aus ihrem Haar, und obwohl sie ihnen den Rücken zudrehte, konnte Lena das unheimliche orangerote Glühen erkennen, in dem Charlottes Gesicht erstrahlte, als wollte es mit der Sonnenscheibe am Himmel konkurrieren. Ihre Kleider schwelten. Lena nahm jedes winzige Detail mit fast übernatürlicher Schärfe wahr, aber sie war auch schon halb auf dem Balkon und bei Charlotte, bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte.
    Es war, als rennte sie in eine Wand aus weißglühenden Glasscherben. Ihre Haut verkohlte. Ihr Körper wurde in Stücke geschnitten und verbrannt, und jede einzelne Zelle in ihr schrie vor Qual. Nur noch vom ungestümen Schwung ihrer Bewegung vorwärtsgetragen, nicht mehr von ihrem Willen, der längst zu Asche verbrannt und in alle Winde verstreut worden war, jagte sie auf Charlotte zu, packte sie bei den Schultern und riss sie mit sich zurück ins Zimmer.
    Sie torkelten bis in die Mitte des Raums und brachen dort zusammen. Feuer schlug aus Charlottes Kleidern und fügte Lena weitere Verbrennungen und Schmerzen zu. Lena musste entsetzt feststellen, dass sie möglicherweise Wasser und vielleicht sogar die rostigen Nägel atmen konnte, von denen Louise gesprochen hatte, aber keine Flammen . Sie bekam keine Luft mehr, und alles wurde dunkel.
    Dann griff irgendetwas in sie hinein und schaltete den Schmerz und die Angst einfach ab. Ihr Blick klärte sich, und sie sah in Louises Gesicht hinauf, die sie sehr ernst, aber auch ärgerlich anblickte.
    Erst als Louise die Hand zurückzog und sich über Charlotte beugte, begriff Lena, dass es Louises Kraft gewesen war, die sie gerettet und ins Bewusstsein zurückgeholt hatte, keineswegs
ihre eigene. Da gab es wohl tatsächlich noch das eine oder andere, was Louise ihr bisher verschwiegen hatte.
    Mühsam stemmte sie sich hoch, blinzelte die letzten bunten Flecke vor ihren Augen weg und wandte all ihre Konzentration auf, um zu Louise und den beiden anderen hinzusehen. Charlottes Kleid schwelte noch immer, und ihr Gesicht war zu schwarzer Schlacke verbrannt, die Augen ausgelöscht und die Lippen weggesengt, so dass die spitzen Zähne dahinter sichtbar wurden. Rauch stieg aus ihrem Mund, und ihr Gesicht glühte an zahllosen Stellen. Lena konnte den Entsetzensschrei nicht unterdrücken.
    »Keine Angst«, sagte Louise rasch. »Das sieht viel schlimmer aus, als es ist. So leicht sind wir nicht umzubringen.«
    Sie legte die flache Hand auf Charlottes Gesicht, und Lena konnte regelrecht sehen, wie etwas aus Louise in Charlotte hineinfloss und den erlöschenden Lebensfunken neu entfachte. Charlotte bäumte sich auf, ließ einen furchtbaren gurgelnden Schrei hören und sank wieder zurück. Ihre zu harter Schlacke verbrannten Augenlider zerfielen dabei in kleine Stücke, wie die verkohlten Seiten eines Buches, die jemand umzublättern versuchte. Die Augenhöhlen dahinter waren leer, schwarz verbrannte Krater, aus denen es rauchte. Noch während Lena hinsah, begann es jedoch an ihrem Grund zu brodeln, und Schlacke und frisches weißes Fleisch flossen zusammen und bildeten zwei neue, unversehrte Augäpfel. Es war das Grauenerregendste, was Lena jemals gesehen hatte.
    »Sie wird wieder«, sagte Nora. »Keine Angst. In ein paar Minuten ist sie wieder wie neu.«
    Die Worte galten Lena, aber es war Louise, die antwortete. »Ja, aber das ist ganz bestimmt nicht dein Verdienst!«, fuhr sie Nora an. »Verdammt noch mal, was war das? Wieder eine von deinen bescheuerten Mutproben?«
    »Nein!«, protestierte Nora. »Natürlich nicht!« Sie wandte
sich mit einem fast flehenden Blick an Lena. Aber sie musste begreifen, dass sie von dieser Seite keine Rückendeckung zu erwarten hatte. »Ja«, sagte sie. »Und? Das ist doch nur ein harmloses Spiel! Ich hätte schon auf deine kleine Freundin aufgepasst!«
    »Ungefähr so wie auf Charlotte?«, fragte Louise kalt.
    »Charlotte ist alt genug, um …«
    »Du weißt ganz genau, wie Charlotte in diesem Zustand ist. Was hattest du vor? Wolltest du zusehen, wie sie sich umbringt?«
    »Jetzt übertreibst du«, sagte Nora.
    Louise sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und sagte mühsam beherrscht: »Wahrscheinlich hast du sogar recht. Aber das ändert nichts daran, dass das eine Riesendummheit war!« Sie machte eine harsche Kopfbewegung zu Charlotte hinab. »Kümmere dich um sie.

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