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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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herum und stürmte hinaus. Lena sah ihr hinterher, und erst als Nora die Tür hinter sich ins Schloss geworfen hatte, wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wo dieses Hinaus war.

    »Wo sind wir?«, fragte sie.
    Louise sah sie an, als hätte sie eine außergewöhnlich dumme Frage gestellt. »Im Club.«
    »Aber das ist auf der anderen Seite der Stadt!«, sagte Lena ungläubig. »Und der Wagen ist kaputt.«
    »Das ist jetzt aber wirklich schmeichelhaft ausgedrückt«, sagte Louise schmunzelnd. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand ohne ein Mikroskop die Marke noch feststellen kann. Eigentlich eine Schande. Ich mag diese italienischen Sportflitzer … Aber um deine Frage zu beantworten: Nora hat dich hierher getragen.«
    »Die ganze Strecke?«.
    »Warum, glaubst du wohl, ist sie so wütend? Aber auch darüber sollten wir später sprechen. Trink das aus. In dem Schrank da drüben sind saubere Kleider. Such dir was Praktisches aus.«
    »Und du?«, fragte Lena, als Louise sich umwenden wollte.
    »Ich helfe Charlotte und Nora. Wir verschwinden von hier, und zwar so schnell wie möglich.«
    »Warum?«
    »Du hast den Zusammenstoß überlebt. Genau wie Nora. Wie kommst du auf die Idee, dass Anton es nicht auch hat?«
    Lena erschrak. Sie hatte den Russen völlig vergessen. »Anton?«
    »Wenn wir Glück haben, dann ist er noch damit beschäftigt, seine Wunden zu lecken«, sagte Louise grimmig. »Aber früher oder später taucht er hier auf. Und ich wäre dann lieber nicht mehr hier … und du auch nicht, glaub mir.«
    »Du glaubst, Stepan steckt hinter alledem?«
    »Wer denn sonst?« Louise zuckte mit den Schultern. »Ich versuche seit einer Stunde, ihn zu erreichen, ohne Erfolg.«
    Lena sah ihr an, dass sie besorgter war, als sie zugeben wollte. Trotzdem fuhr Louise fort: »Stepan ist so wenig an einem Krieg gelegen wie mir. Schon weil er eine Menge zu verlieren hat. Bestimmt kann ich mich mit ihm einigen, wenn ich die Gelegenheit
finde, mit ihm zu reden. Aber jetzt müssen wir erst einmal mit Anton fertigwerden. Der Kerl ist so durchgeknallt wie eine tollwütige Kanalratte.«
    »Und er ist wirklich sein Sohn?«, fragte Lena.
    »Wenn du damit die Frucht seiner Lenden meinst, nein. So pflanzen wir uns nicht fort.«
    »Aber du hast gesagt, dass nur Frauen die Macht haben, einen Menschen zu verwandeln«, sagte Lena.
    Louise starrte sie noch kurz mit steinerner Miene an, dann wandte sie sich endgültig um und verschwand.
    Lena war jetzt hoffnungslos verwirrt. Nichts war hier so, wie es bisher den Anschein gehabt hatte …
    Der Hunger wühlte nach wie vor in ihrem Leib. Also nahm sie das Glas und den Plastikbeutel und leerte ihn bis auf den letzten Tropfen. Sie kam sich dabei … schmutzig vor und auf eine schreckliche Weise schuldig. Als hätte sie einem hungrigen Kind sein Essen gestohlen.
    Da sie sich noch sehr gut daran erinnerte, was für einen grässlichen Anblick Noras blutiger Mund geboten hatte, achtete sie peinlich genau darauf, nicht einen einzigen Tropfen zu verschütten. Anschließend riss sie ein Stück aus ihrer hoffnungslos zerfetzten Kleidung und tupfte sich damit sorgsam über die Lippen. Zum ersten Mal bedauerte sie es, sich nicht mehr selbst im Spiegel betrachten zu können; und zugleich war sie unendlich erleichtert, als sie sah, wie unversehrt ihre Haut war: glatt und ohne einen Kratzer. Nicht einmal Schmutz und Ruß hatten Halt daran gefunden, obwohl ihre Kleider aussahen, als hätte sie versucht, in einem Hochofen zu übernachten.
    Sie glitt von der Liege, auf der sie erwacht war, riss sich auch noch den Rest der verbrannten Fetzen vom Leib und trat an den Schrank. Die Türen quietschten beim Öffnen leise, und der Schrank quoll über von schreiend bunten Klamotten,
die geradezu eine Beleidigung für jedes normale Farbempfinden waren.
    Ganz ohne Zweifel Noras Schrank.
    Lena seufzte, suchte etwas, in dem sie nicht aussehen würde, wie einem abschreckenden Video über die späten Achtziger entsprungen, und ließ sich schließlich in die Hocke sinken. Als sie die Hand nach einer scheckigen Jeans mit winzigen Glöckchen an den Säumen ausstrecken wollte, sah sie das Päckchen.
    Es war in buntes Geschenkpapier eingeschlagen und noch zerdrückter als zuvor. Wo es im Wasser gelegen hatte, war das Papier aufgeweicht und verdreckt, und die Schleife war verschwunden. Aber es war das Päckchen, das Tom ihr gebracht hatte. Nora musste es gefunden und hierher gebracht haben. Sie hatte nicht die geringste Ahnung,

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