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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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heulend und Funken sprühend und schlingernd wieder heraus. Obwohl Motor und Getriebe eindeutig im Sterben lagen, brachte Nora irgendwie das Zauberkunststück fertig, noch einmal zu beschleunigen. Lenas Blick hing wie gebannt an der Tachonadel, die die Hundertermarke schon wieder erreicht hatte und weiterzurasen schien, und sie begriff im allerletzten Moment, was Nora da wirklich tat.
    Aber selbst wenn es etwas gegeben hätte, was sie hätte tun können, wäre es viel zu spät gewesen. Die Scheinwerfer des BMW sprangen mit einem gewaltigen Satz auf sie zu, und der Fahrer versuchte nicht einmal auszuweichen. Und wozu auch?
    Den gewaltigen Knall, mit dem die beiden Wagen frontal ineinanderkrachten und sich buchstäblich in ihre Einzelteile auflösten, bekam sie schon nicht mehr mit.

23
    Sie war tot, ganz eindeutig. Sie musste tot sein, denn obgleich der gewaltige Aufprall ihr sofort das Bewusstsein geraubt hatte, erinnerte sie sich im Nachhinein an jedes noch so winzige Detail, als hätte es da noch ein zweites, weit stärkeres Bewusstsein gegeben, einen stummen und gnadenlosen Beobachter, der eifersüchtig darauf achtete, ihr nichts zu ersparen: Sie war durch die Windschutzscheibe geschleudert worden, und was ihr das Glas und die plötzlich zu Messerklingen gewordenen Sicherheitsgurte nicht angetan hatten, das hatten die Trümmer des BMW getan, ein Wust von scharfkantigem Metall und Glas und auseinanderspritzendem Fleisch, durch den sie von der Faust eines zornigen Gottes hindurchgeprügelt wurde, ihr Fleisch zerrissen und von den zerbrechenden Knochen geschält, ihr Körper zu einem einzigen, kreischenden Schmerz reduziert, ein unendlich kleiner Punkt, wie eine Singularität aus reiner Qual, die dennoch das gesamte Universum ausfüllte. Wenn in ihrem Körper noch ein Knochen gewesen war, der nicht zerbrochen war, dann war er wohl zerschmettert worden, als sie zahllose Meter hinter dem explodierenden BMW auf der Straße aufschlug und weiterschlitterte, und ein Teil von ihr hatte auch gebrannt, entzündet von irgendetwas, was aus dem zerberstenden Wrack herausgespritzt war.
    Was danach gekommen war, war beinahe noch schlimmer gewesen. Dunkelheit hatte sie umgeben und ein Hauch von
Kälte. Sie hatte das Gefühl gehabt, sich zu bewegen, körperlos durch ein Universum aus alles verschlingender Einsamkeit zu gleiten, und da waren noch andere Eindrücke gewesen, so bizarr und fremdartig, dass sie keine Worte dafür hatte. Und Hunger, ein so unvorstellbarer, quälender Hunger, der niemals aufhören würde. Sie war tot, und alles, was die Menschen jemals über die Hölle erzählt hatten, stimmte nicht, denn sie war in Wahrheit unendlich schlimmer.
    Aber wenn sie tot war, woher kamen dann die Stimmen, und was wollten sie von ihr?
    Zu dem Tsunami aus Schmerz, der immer wieder über sie hinwegpeitschte, gesellte sich ein nicht minder unangenehmes Gefühl. Etwas berührte ihre Zähne und zwang sie auseinander, und pure Säure ergoss sich in ihren Rachen.
    »Halt still. Es wird gleich besser.«
    Sie kannte diese Stimme, ohne ihr ein Gesicht zuordnen zu können. Aber alles in ihr warnte sie, ihr zu trauen. Sie hatte jedoch nicht die winzigste Chance gegen die übermenschliche Kraft, die ihre Kiefer auseinanderzwang, und den noch um vieles stärkeren Willen, der ihr zu schlucken befahl.
    »Wehr dich nicht. Das macht es nur schlimmer.«
    Eine andere Stimme, sanfter und sehr viel besorgter als die andere. Aus der Säure in ihrem Rachen wurde Hitze, dann Wärme und gleich darauf ein Strom wohltuender Betäubung, der sich rasch in ihrem Körper ausbreitete und nicht nur den Schmerz betäubte, sondern sie auch mit einer Art … verbotener Kraft erfüllte. Grelle Blitze zerrissen die Schwärze, die ihr Universum ausfüllte, und sie musste plötzlich wieder an den schrecklichen Anblick denken, den Charlottes Auge geboten hatte, als sie im Restaurant gewesen waren. War es möglich, dass …?
    »Ich würde dir gern mehr Zeit lassen, Lena, aber das geht leider nicht.«

    Derselbe göttergleiche Wille, der sie gezwungen hatte, die Säure zu trinken, befahl ihr nun, die Augen zu öffnen, und sie hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen.
    Louise beugte sich über sie. Sie sah besorgt aus, aber etwas stimmte mit ihrem Gesicht nicht.
    »Hier. Trink.«
    Sie wollte nicht trinken, erinnerte sie sich doch zu gut an den schrecklichen Schmerz, den die ersten Schlucke gebracht hatten. Aber Louise ließ ihr auch diesmal keine Wahl. Sie setzte ein Glas

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