Wir sind die Nacht
oder sehe ich aus, als hätte ich gerade einen Frontalzusammenstoß mit zweihundert Sachen hinter mir?«
Tom antwortete nicht darauf, aber Lena hätte sich am liebsten geohrfeigt. Tom hatte nichts von einem Frontalzusammenstoß gesagt. Aber jedes weitere Wort hätte es nur schlimmer gemacht.
»Auf jeden Fall siehst du gut aus«, sagte Tom nach ein paar Sekunden. »Freut mich, dass du die Sachen doch noch gebrauchen konntest.«
»Es sind ja auch meine. Und ich hab jetzt Feierabend.«
»Sie stehen dir sowieso besser als die Schickimicki-Klamotten von vorhin«, sagte Tom.
Es fiel ihr schwer, auf dieses Kompliment nicht mit einem
Lächeln zu antworten, sie beließ es aber bei einem kühlen Danke und sah ihn dann übertrieben ungeduldig an. »Wie gesagt, ich habe jetzt Feierabend, und ich bin müde und würde gern nach Hause gehen.«
»Dein Wagen«, sagte Tom. »Zeigst du ihn mir?«
Etwas bewegte sich hinter ihm. Ein Schatten, der nicht wirklich da war.
»Es ist nicht mein Wagen«, antwortete Lena. Sie musste sich beherrschen, um die Dunkelheit hinter ihm nicht zu auffällig anzustarren. Waren die fünf Minuten, von denen Nora gesprochen hatte, schon um? Aber sie war doch gerade dabei, ihn wegzuschicken!
»Ist so eine Art Firmenwagen, den jeder benutzt, der schnell irgendwo hinmuss. Ich weiß nicht, wer ihn gerade hat.«
Es war keine Einbildung. Da war etwas hinter ihm, aber der Parkplatz war zu dunkel, als dass selbst ihre scharfen Augen mehr als Schemen erfassen konnten.
»Und wer weiß, wer damit unterwegs ist?«, fragte Tom.
»Die Chefin«, antwortete sie. »Aber die ist nicht mehr da. Wenn du morgen wiederkommst, zeigt sie dir bestimmt das Fahrtenbuch … falls es hier so was gibt. Keine Ahnung.«
Toms Blick ließ endlich ihr Gesicht los und versuchte die Dunkelheit hinter der Tür zu durchdringen. »Und wer ist noch da?«, fragte er.
»Niemand«, antwortete Lena grob. »Nur noch ich. Und ich würde jetzt wirklich gern nach Hause gehen. Ich bin todmüde.«
»Ich kann dich fahren. Wenn der Wagen nicht da ist …«
»In der Karre?« Lena machte ein abfälliges Geräusch. »Danke. Ich nehme mir ein Taxi.«
»Wie du willst.« Toms Stimmung kühlte nun spürbar ab. »Aber richte deiner Chefin aus, dass sie mich anrufen soll. Dringend.«
Er hielt ihr eine Visitenkarte hin. Lena überlegte kurz, sie zu
ignorieren, nahm sie aber dann doch entgegen und steckte sie ein. Tom druckste noch einen Moment herum und ging dann ohne ein weiteres Wort zu seinem Wagen zurück.
Lena machte einen Schritt in den Schatten des Eingangs hinein, blieb aber dann wieder stehen. Sie hatte sich den Schemen nicht eingebildet, und seit Nora den Russen umgebracht hatte, traute sie ihr noch weniger. Lena würde warten, bis Tom sicher im Wagen saß und abgefahren war.
Als er die Hand nach der Tür ausstreckte, klingelte sein Handy. Tom zog es aus der Jackentasche, nahm das Gespräch an und war zugleich schon halb im Wagen. Dann erstarrte er mitten in der Bewegung und sog die Luft zwischen den Zähnen so scharf ein, als hätte er erst jetzt gemerkt, dass der Türgriff glühend heiß war.
»Bist du dir sicher?«, fragte er erschrocken. Zugleich richtete er sich wieder auf und fuhr zu Lena herum. In seinen Augen stand nichts als blankes Entsetzen geschrieben. »Und es gibt keinen Zweifel?« Was war das in seinem Blick - Mitleid oder Misstrauen?
Lena sollte es nie erfahren, denn von diesem Moment an schien alles gleichzeitig zu passieren: Irgendwo hinter Tom stach ein orangeroter Funke durch die Dunkelheit, und auch die Schatten waren wieder da, ein zitterndes, rasend schnelles Huschen an der Grenze des Wahrnehmbaren. Etwas polterte hinter ihr, und eine körperlose eisige Hand schien sie am Grunde ihrer Seele zu berühren. Ein peitschender Knall durchbrach die Stille, doch noch bevor er ganz an ihr Ohr dringen konnte, fühlte sich Lena mit unwiderstehlicher Kraft gepackt und zurückgerissen. Die Tür fiel mit einen dumpfen Schlag vor ihr ins Schloss, und das Letzte, was sie sah, war Tom, der sein Handy fallen ließ, beide Hände vor das Gesicht schlug und langsam in die Knie sank, während in Strömen hellrotes Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll.
24
Lena hatte zwar nicht das Bewusstsein verloren, aber der Schock hatte nahezu dieselbe Wirkung gehabt. Tom war tot. Jemand hatte ihm in den Kopf geschossen, und sie hatte nichts getan, um ihn zu retten. Sie hatte den Schatten gesehen und die Gefahr gespürt, das Böse, das sich wie
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