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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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angeht?«
    »Etwas Persönliches«, sagte Louise. »Es geht dich tatsächlich nichts an, und mich auch nicht.« Dann hob sie die Schultern. »Ach verdammt, warum eigentlich nicht? Du willst wissen, warum wir hier sind? Auch auf die Gefahr hin, dass es dir nicht gefällt?«
    Lena nickte, und Louise drehte sich herum und machte eine Kopfbewegung zum Lift. »Dann komm mit.«

33
    Das Glas war so dick, dass selbst Lenas feines Gehör keinen Laut von der anderen Seite her wahrnahm, aber sie hatte Szenen wie diese oft genug erlebt (wenn auch eigentlich nur im Film), um das beständige Hintergrundsummen und Piepsen und Klicken der Überwachungsmonitore und -computer dennoch zu hören, die das Bett an zwei Seiten flankierten. An diesem Anblick war etwas, was ihr den Atem abschnürte. Vielleicht war es der Umstand, dass sie in ein Sterbezimmer blickte. Der Raum war groß und wirkte durch den Umstand, dass es bis auf das Bett, einen einzelnen Stuhl und die Phalanx der elektronischen Wächter leer war, noch größer. Die Fenster waren geschlossen, und durch die Vorhänge drang nur wenig Licht. Jemand hatte die Wände in freundlichen Farben gestrichen und Bilder aufgehängt, die Stillleben oder Landschaften zeigten, und obwohl das dicke Glas jeden Laut verschluckte, spürte sie irgendwo die leise klassische Musik, die aus versteckt angebrachten Lautsprechern drang.
    Nichts von alledem änderte etwas daran, dass es ein Sterbezimmer war, auch wenn das Sterben dort drinnen Wochen dauern würde, wenn nicht gar Monate oder Jahre. Die schmale Gestalt in dem viel zu großen Bett würde diesen Raum nie wieder verlassen. Vielleicht für ein Bad oder irgendeine medizinische Behandlung, von der sich Lena fragte, wozu sie überhaupt gut sein sollte. Aber nicht, um zu leben.

    »Wie lange hat Charlotte ihre Tochter nicht mehr gesehen?«, fragte sie. Die geflüsterten Worte schienen in dem winzigen Vorraum mehrfach widerzuhallen, wie etwas, was nicht in diesen Warteraum des Todes gehörte.
    Louise antwortete beinahe noch leiser. »Zehn Jahre. Vielleicht auch mehr. Aber sie hat sie auch damals schon nicht erkannt.« Ein seltsam melancholisches Lächeln, wie Lena es niemals von ihr erwartet hätte, huschte über ihre Lippen. »Es ist eine schreckliche Krankheit - aber zugleich auch eine von wenigen, die es gut mit denen meint, die sie heimsucht.«
    »Alzheimer?«, sagte Lena.
    »Das Alter«, antwortete Louise. »Sie ist weit über neunzig.« Sie seufzte. »Und ja, auch dement. Sie wusste nie, wer Charlotte ist, jetzt weiß sie auch nicht mehr, wer sie selbst ist. Ein paar Dinge hat die Natur für ihre Stiefkinder wohl doch gut geregelt.«
    Wenn sie glaubte, dass diese Worte Lena irgendwie trösteten, dann täuschte sie sich. Wahrscheinlich waren sie ehrlich gemeint, aber Lena kamen sie wie böser Hohn vor.
    »Warum mutest du ihr das zu?«, fragte sie.
    »Weil es Charlottes Wunsch war. Es kann zwanzig Jahre oder mehr dauern, bis wir wieder in dieses Land zurückkommen … vielleicht tun wir’s auch nie. Aber ganz egal, wie lange es dauert, sie wird sie nicht wiedersehen. Wie hätte ich ihr diesen Wunsch abschlagen können?«
    »Ich finde, das hättest du gemusst, wenn du wirklich ihre Freundin bist. Das ist … unmenschlich.«
    »Mag sein. Aber wir sind auch keine Menschen.«
    Erstaunlicherweise schockierten Lena diese Worte viel weniger als das, was sie zuvor gesagt hatte.
    »Wir sollten wieder gehen«, fuhr Louise fort. »Du wolltest wissen, warum wir hier sind, und nun weißt du es. Jetzt bleiben nur noch ein paar Stunden bis Sonnenuntergang, und ich habe noch eine Menge zu erledigen.«

    »Zum Beispiel?«
    Sie konnte Louise die Verärgerung ansehen, dass sie diese Frage überhaupt stellte, trotzdem antwortete sie. »Ein paar Telefonate führen, ein paar Dinge regeln … Charlotte hat keine einzige Minute geschlafen, und die Fahrt hierher war wirklich anstrengend. Ich muss eine andere Transportmöglichkeit für uns finden.«
    »Nach Paris?« Lena versuchte die Entfernung bis dorthin abzuschätzen, gab es aber sofort wieder auf. In Geografie war sie nie sonderlich gut gewesen. »Ein Düsenjet?«
    »Es ist besser, wenn wir unsere Pläne ändern«, sagte Louise. »Ich traue Stepan nicht - und deinem kleinen Polizistenfreund und seinen Kollegen schon gar nicht.« Lena blickte sie fragend an, und Louise fuhr mit einer fast ärgerlichen Geste fort: »Sie haben uns ein bisschen zu schnell gefunden, für meinen Geschmack. Ich möchte nicht in Paris

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