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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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ich habe genauso gelebt wie du.«
    »Ich verstehe«, sagte Lena bissig. »Ich nehme an, du hast auch russischen Zuhältern am Geldautomaten aufgelauert, nur eben am Hof des Zaren.«
    »Die gab es damals noch nicht«, erwiderte Louise, »aber die eine oder andere Geldbörse ist unter meinem Rock verschwunden, das stimmt.«
    Lena setzte dazu an, sie zu fragen, was sich noch alles unter ihren Rock verirrt hatte, aber dann begriff sie selbst, wie albern das gewesen wäre. Louises Taktik, sie einfach vor eine Gummiwand laufen zu lassen, funktionierte nicht nur ausgezeichnet - wenn sie es recht bedachte, dann hatte Lena sie bei verschiedenen Gelegenheiten selbst schon erfolgreich angewandt. Gut, dachte sie widerwillig, zumindest in diesem Punkt waren sie sich ähnlich, wenn auch sonst in nichts. Auf gar keinen Fall. Niemals. Unter keinen Umständen.
    »Und dasselbe gilt für Stepan«, fuhr Louise fort. »Ich habe ihn tatsächlich am Hof des Zaren kennengelernt. Ein schneidiger junger Offizier, voller Elan und Lebensfreude, und genauso
unsterblich in mich verknallt wie dein kleiner Tom in dich. Und ich in ihn.«
    »Und dann hast du ihn eines Tages wirklich unsterblich gemacht.«
    Louise nickte, und jetzt sah sie wirklich traurig aus.
    »Was ist passiert?«, fragte Lena, nachdem sie eine Zeit lang schweigend dagesessen hatten.
    »Was immer passiert«, antwortete Louise. »Er hat sich verändert. Er ist der Verlockung der Macht erlegen.«
    »Macht?«, wiederholte Lena zweifelnd. Sie verstand nicht genau, wovon Louise sprach. Wenn sie die Wahrheit sagte und Stepan vor langer Zeit tatsächlich so gewesen sein sollte wie Tom (lächerlich!), wie hätte er dann ihrer Verlockung erliegen sollen? Tom war ein bisschen auch wie sie, und sie selbst hatte niemals das Bedürfnis verspürt, Macht über andere auszuüben. Es mochte ja angenehm sein, nur mit dem Finger schnippen oder die Augenbraue heben zu müssen, damit alle Welt hüpfte und sprang, aber sie stellte es sich auch lästig vor, und die Verantwortung, die damit einherging, anderen zu befehlen, was sie zu tun oder zu lassen hatten, musste gewaltig sein. Ihr genügte es vollkommen, wenn andere keine Macht über sie hatten. Sie hatte ein Jahr lang am eigenen Leib gespürt, was es hieß, hilflos und ausgeliefert zu sein.
    »Macht?«, fragte sie noch einmal.
    »Macht«, bestätigte Louise. »Es ist die stärkste aller Drogen, glaub mir. Reichtum, Sex, Drogen …« Sie machte eine wegwerfende Geste, die einen Funkenschauer aus ihrer Zigarette explodieren ließ. »Das alles ist nichts gegen den Kick, den dir das Gefühl verleiht, Macht über andere zu haben. Es ist ein Dauerrausch, und er macht süchtig nach mehr. Alle.«
    »Außer dich«, sagte Lena spöttisch.
    »Ich bin so wenig dagegen gefeit wie alle anderen«, erwiderte Louise. »Aber ich habe gelernt, damit umzugehen.«

    »Ach ja? Und wie?«
    »Was glaubst du, warum ich so lebe, wie ich lebe? Denkst du wirklich, es macht mir Spaß, ein unendliches Leben auf der Flucht zu verbringen? Denkst du, ich sehne mich nicht nach einem Platz, an den ich gehöre? Einer Heimat? Freunden?« Louise schüttelte heftig den Kopf. »Das gehört auch zu den Dingen, die wir nicht mehr haben können, Liebes. Warum, glaubst du wohl, haben sich die wenigen von uns, die es noch gibt, nicht irgendwo niedergelassen und sind Könige oder Präsidenten geworden oder leiten ein Industrieimperium oder meinetwegen auch ein Drogenkartell?«
    »So wie Stepan es tut?«
    »Stepan ist ein Idiot«, sagte Louise. »Er wird sterben. Ich kann ihn nicht töten, aber früher oder später wird jemand kommen, der es kann, und der wird es tun. Unsere einzige Chance zu überleben ist eine Existenz als Ruhelose. Wenn du ein bisschen Glück hast, dann wird sich dein Leben in Jahrtausenden messen, Liebes, aber eine Heimat, das gehört leider auf die Liste der Dinge, die du nie wieder haben wirst.«
    »Allmählich wird diese Liste ziemlich lang«, grollte Lena.
    »Das stimmt.« Louise lächelte. »Aber die Liste der Dinge, die du dafür zurückbekommst, ist um so vieles länger … und es stehen Dinge darauf, die du dir jetzt noch nicht vorstellen kannst. Irgendwann wirst du sehen, was für ein wundervolles Geschenk ich dir gemacht habe, glaub mir.«
    Lena spürte, dass der Augenblick der Wahrheit vorbei war und das Gespräch nun wieder in die Richtung ging, in die Louise es von Anfang an hatte lenken wollen; und die Lena nicht gefiel. Sie stand auf, sah einen Moment lang

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