Wir sind die Nacht
ankommen und dort einem Empfangskomitee in die Arme laufen.«
»Ich kann fahren«, bot sich Lena an.
»Weil du ja vor lauter Energie gerade richtig aus den Nähten platzt«, sagte Louise spöttisch und schüttelte den Kopf.
»Aber irgendwie müssen wir doch …«
»Zerbrich dir mal nicht dein hübsches Köpfchen. Ich finde schon eine Lösung.« Louise lachte. »Den Club zu führen und dem Finanzamt durch die Maschen zu schlüpfen war schwieriger.«
Lena musste ihren Ärger hinunterschlucken. »Ich kann fahren«, beharrte sie. »Und ich wäre dir dankbar, wenn du endlich aufhören würdest, mich wie ein Kind zu behandeln.«
»Tu ich«, antwortete Louise gelassen, »sobald du aufhörst, dich wie eins zu benehmen.« Sie schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab, als sie widersprechen wollte. »Bist du hungrig?«
»Was hat denn das jetzt …«, begann Lena aufgebracht, gewahrte etwas in Louises Blick, das sie am Weiterreden hinderte,
und nickte. Sie war hungrig, sehr sogar, und das seit Tagen. Die wenigen Schlucke, die Louise ihr am Morgen zugestanden hatte, hatten nicht viel genutzt.
»Du würdest keine zwei Stunden durchhalten, glaub mir.«
»Dann gib mir etwas!«, verlangte Lena. »Wir haben doch genug Blutkonserven, oder nicht?«
»Oder nicht«, sagte Louise. »Erstens ist es unsere eiserne Reserve, und ich habe nicht die geringste Ahnung, wann wir sie wieder auffüllen können. Wir sind auf der Flucht, Schätzchen, vergiss das nicht. Und es wäre auch nicht dasselbe.«
»Wieso?«
»Du hörst mir nie richtig zu, Kleines«, sagte Louise tadelnd. »Ich habe es dir doch erklärt. Blutkonserven halten uns am Leben, genau wie das Blut von Tieren, aber sie geben uns keine Kraft.« Sie legte den Kopf schräg und zögerte einen winzigen, aber beredten Augenblick. »Ich weiß, ich habe dir gesagt, dass ich dich zu nichts drängen werde und dass du dir so viel Zeit lassen kannst, wie du willst … aber vielleicht wäre jetzt der passende Moment.«
»Der passende Moment wofür?«, fragte Lena alarmiert.
»Auf die Jagd zu gehen«, antwortete Louise. »Irgendwann wirst du es sowieso tun. Und ich bin nicht so überzeugt davon, wie ich es gern wäre, dass wir wirklich schon in Sicherheit sind. Falls wir kämpfen müssen, wirst du jedes bisschen Kraft brauchen, das du bekommen kannst.«
»Ich kann mich meiner Haut wehren!«, giftete Lena.
»Schon vergessen, was Stepan mit dir gemacht hat?«
»Du glaubst, Stepan könnte herkommen?«
»Nein. Mit - wie sagt man noch? - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Aber ich bin nicht so alt geworden, weil ich mich auf so etwas verlassen habe.«
»Und wo soll ich deiner Meinung nach … auf die Jagd gehen?«, sagte Lena. »Wir sind doch hier irgendwo im Osten,
oder? Bulgarien, Rumänien, Polen … was weiß ich. Fällt es hier nicht so auf, wenn ein Vampir durch die Nacht schleicht und den Leuten das Blut aussaugt?«
Louise sah nicht verärgert aus, nicht einmal verstimmt. »Warum fängst du nicht hier an?«, fragte sie lächelnd. »Die meisten Patienten hier haben ohnehin nicht mehr lange zu leben.«
Lena starrte sie an. Da war kein Zynismus in Louises Stimme oder Hochmut. Sie meinte, was sie sagte, und sie empfand … nichts dabei.
»Ja, dann fange ich am besten gleich hier an«, sagte sie mit einer Geste zur Trennscheibe. »Wahrscheinlich tue ich Charlotte sogar einen Gefallen!«
Bevor Louise sie daran hindern konnte, stürmte sie ins Nebenzimmer. Charlotte sah nicht auf, als sie die Tür hinter sich zuwarf. Der Knall hallte wie ein Pistolenschuss durch den Raum, der ihr plötzlich viel kleiner und beengter vorkam als durch die Glasscheibe betrachtet. Es war kühl, fast schon kalt, und statt des beruhigenden Summens der Elektronik, das sie erwartet hatte, hörte sie ein enervierendes unterschwelliges Pulsieren, das ihrem Herzschlag genau entgegengesetzt zu sein schien und ihr das Atmen schwer machte.
Sie bedauerte augenblicklich, hier hereingekommen zu sein. Charlotte saß mit dem Rücken zu ihr da und hielt die Hand ihrer Tochter, und obwohl sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, spürte sie den entsetzlichen Schmerz, der Charlotte ergriffen hatte. Sie hatte kein Recht, hier zu sein. Vorsichtig wollte sie die Tür wieder öffnen, aber Charlotte sagte leise: »Bleib!«
Lena ließ den Türknauf wieder los.
»Hat Louise es dir gesagt?«, fragte Charlotte.
Lena trat ein paar Schritte näher, und obwohl sie gewusst hatte, was sie sehen würde,
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