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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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gewollt hätte.«
    Liebe …
    Das Wort löste etwas … Seltsames in Lena aus, eine Mischung aus Erstaunen und schlechtem Gewissen und einem so überwältigenden Mitleid, dass sie Charlotte am liebsten in die Arme geschlossen und an sich gedrückt hätte. Von den drei Frauen war Charlotte für sie immer die rätselhafteste gewesen. Auf ihre stille Art wirkte sie aristokratisch sanft, aber sie hatte auch mit eigenen Augen gesehen, welch gnadenlose Killerin sie sein konnte. Vielleicht gerade deshalb hatte sie ihr die wenigste Menschlichkeit von allen zugebilligt. Und schließlich war es gerade erst einmal ein paar Minuten her, dass Louise es selbst gesagt hatte: Wir sind keine Menschen. Plötzlich erfüllte sie ein Gefühl tiefer Scham.
    »Wusstest du, dass ich ihren ersten Mann getötet habe?«, fragte Charlotte, gerade als die Stille zwischen ihnen unangenehm zu werden begann. »Nein, woher auch? Aber ich habe es getan. Er war ein Schwein. Er hat sie betrogen und ausgenutzt und geschlagen. Als er sie das erste Mal ins Krankenhaus geprügelt
hat, habe ich ihn gewarnt, und es ging eine Weile gut. Nach dem zweiten Mal habe ich ihn umgebracht.«
    »Dann hatte er es wahrscheinlich verdient«, sagte Lena.
    »Niemand hat es verdient, getötet zu werden«, antwortete Charlotte leise. »Nicht so.«
    Lena dachte an Stepan und vor allem seinen vermeintlichen Sohn Anton und enthielt sich vorsichtshalber jedes Kommentars.
    »Ich habe alles für sie getan, was ich konnte«, fuhr Charlotte fort. »Nur nicht das, was ich gemusst hätte.«
    »Warum hast du sie nicht …?«, begann Lena, schwieg einen Moment und setzte dann neu an. »Hast du dir niemals überlegt, sie zu … zu einer von uns zu machen?«
    »Um sie genauso zu verdammen, wie ich es bin?«, erwiderte Charlotte bitter. »Außerdem war es nicht in ihr. Sie war nur Beute.«
    Und das - und vor allem die Art, auf die sie die letzten Worte aussprach - war mehr, als Lena ertragen konnte. Fluchtartig verließ sie das Zimmer und stürmte durch den winzigen Vorraum in den Gang. Sie war aufgewühlt, hin- und hergerissen zwischen Zorn und einer sonderbar ziellosen Art der Verzweiflung. Etwas geschah mit ihr hier und jetzt, nur wusste sie nicht, was.
    »Tut mir leid, dass du das sehen musstest.«
    Lena hätte fast vor Schrecken aufgeschrien, weil Louise wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. Sie hielt eine brennende Zigarette in der einen und das aufgeklappte Handy in der anderen Hand. »Aber du wolltest es ja.«
    »Warum hast du ihr das angetan?«, fragte Lena. »Macht es dir Spaß, sie leiden zu sehen?«
    »Sie würde noch sehr viel mehr leiden, wenn ich ihr die Chance verwehrt hätte, Abschied zu nehmen«, antwortete Louise. »Sie wird es überwinden, glaub mir. In ein paar Tagen liegen wir am Strand, und dann sieht die Welt schon anders
aus.« Sie wedelte mit ihrem Telefon. »Ich hab uns einen Heli besorgt. Er landet morgen eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang und bringt uns zum nächsten Flughafen.«
    »Eine Stunde vor Sonnenaufgang?«, vergewisserte sich Lena.
    Louise hob beiläufig die Schultern. »Es ging nicht anders«, antwortete sie. »Ich warte lieber in einem abgedunkelten Flugzeughangar auf einen Flieger, der mich dort abholt, als in der Schlange auf einem überfüllten osteuropäischen Flughafen. Mach dir keine Sorgen. In weniger als vierundzwanzig Stunden sitzen wir im Jet.«
    »Und damit ist dann alles wieder gut, wie?«, schnappte Lena.
    Louise sah sie leicht irritiert an, klappte ihr Handy zu und nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette.
    Der Zigarettenrauch stieg senkrecht in die Höhe, passierte das auffällige RAUCHEN VERBOTEN-Schild, unter dem sich Louise mit ihrem Joint postiert hatte, und wurde dann vom Luftzug der Klimaanlage erfasst und weggesaugt. Lena fragte sich, ob sie es aus reiner Gedankenlosigkeit tat oder um diesen unangenehmen Geruch zu verdecken, der ihr schon am Morgen aufgefallen war und den es auch hier unten gab, allen überreichlich verwendeten Desinfektionsmitteln und Duftsprays zum Trotz.
    Sie wusste inzwischen, was er bedeutete und warum er so unangenehm war. Es roch nicht etwa nach Krankenhaus und Putzmitteln, sondern nach alten Leuten. Der Geruch widerte sie an, sosehr sie sich dafür schämte.
    »Möchtest du eine kleine Führung?«, fragte Louise und trat ihre Zigarette auf dem Boden aus, ohne sich um den Brandfleck zu scheren, den sie dem sorgsam gebohnerten Parkett zufügte. »Nur um zu sehen, was dir erspart bleibt?«
    Lena

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