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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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unschlüssig überallhin, nur nicht in Louises Richtung, und trat schließlich ans Fenster.
    Ihre Vermutung war richtig gewesen. Es war Mittag. Die Sonne stand nahezu senkrecht über dem Park und verwandelte
ihn in eine kitschige Spielzeuglandschaft, die von einem Märchenwald umgeben war. Die große Rasenfläche war jetzt nicht mehr leer. Eine ganze Anzahl Personen saß auf Bänken, plauschte miteinander, fütterte die Fische in dem kleinen Zierteich oder stand einfach nur da und genoss den Sonnenschein. Da war etwas, was sie verband, aber Lena konnte nicht genau sagen, was. Dann erinnerte sie sich an ihr Gespräch vom Morgen, und im selben Moment fiel ihr auch auf, wie viele der Männer und Frauen dort unten in Rollstühlen saßen oder sich schwer auf Krücken oder andere Gehhilfen stützten.
    »Ein Altersheim«, sagte sie.
    »Eine Altersresidenz«, verbesserte sie Louise. Sie lachte. »Glaub mir, der Unterschied besteht nicht nur in den Kosten, ganz egal, was Charlotte behauptet.« Lena konnte hören, wie sie aufstand und mit langsamen Schritten näher kam. »Wir haben auch eine Dachterrasse, von der du einen besseren Ausblick hast - sobald die Sonne untergegangen ist, heißt das.«
    Lena sah weiter aus dem Fenster. Ihr verbessertes Sehvermögen half ihr zu erkennen, dass die meisten der Menschen dort unten - alle, wenn sie die überraschend große Anzahl von Pflegern und anderem Betreuungspersonal außer Acht ließ - sehr alt waren, aber ausnahmslos gepflegt, und nur die allerwenigsten sahen wirklich gebrechlich aus. Trotzdem.
    »Das ist schrecklich«, sagte sie.
    Louise trat hinter sie. Lena konnte das Rascheln ihrer Kleidung hören und das fast elektrische Knistern ihres Haars.
    »Ganz sicher kann ich natürlich nicht sein«, sagte Louise, »aber ich glaube, es ist das beste Pflegeheim diesseits des Ozeans. Niemand vermutet es in einem Land wie diesem. Und das ist genau der Grund, aus dem ich es hier eröffnet habe.«
    »Du?«
    »Es gehört mir.« Louises Haar knisterte noch lauter, als sie nickte, und ihre Nähe wurde … präsenter. Auf eine durchaus
angenehme Art. Lena versuchte vergeblich, den prickelnden Schauer zu ignorieren, der ihr über den Rücken lief. »Und es ist sogar ein gutes Geschäft. Du machst dir ja keine Vorstellung davon, wie viel die Reichen und Schönen dieser Welt dafür bezahlen, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.«
    »Vielleicht wollen sie nur nicht sehen, was irgendwann auch auf sie zukommt«, sagte Lena.
    »Nicht irgendwann«, erwiderte Louise. »Es ist wenig mehr als morgen. Du blinzelst ein paarmal, und schon bist du alt. Na ja - du nicht. Glaubst du an Gott?«
    Der plötzliche Themenwechsel überraschte Lena so sehr, dass sie den Kopf drehte. Louise stand ganz dicht hinter ihr. Sie berührten sich noch nicht, aber zwischen ihnen war kaum noch ein Zentimeter Abstand, und er schien mit unsichtbarer knisternder Elektrizität gefüllt zu sein. Lena wandte den Kopf sofort ab und konzentrierte sich wieder auf den Park.
    »Wenn ich es je getan hätte«, sagte Louise, »dann hätte ich in dem Moment damit aufgehört, in dem ich den ersten alten Menschen gesehen hätte. Wenn es ihn wirklich gibt, warum lässt er dann zu, dass seine Kinder nur ein so erbärmlich kurzes Leben leben und dann so elendiglich enden müssen, wo es doch in seiner Macht steht, so etwas wie uns zu erschaffen?«
    »Vielleicht sind wir ja die Kinder des anderen«, hörte sich Lena zu ihrer eigenen Überraschung antworten.
    »An den glaube ich schon gar nicht«, sagte Louise. »Und keiner der unzähligen Pfaffen und Schwarzröcke, mit denen ich gesprochen habe, konnte mir wirklich erklären, wie das Konzept eines allmächtigen Gottes zu der Idee eines genauso mächtigen Widersachers passt, mit dem er sich um unsere Seelen prügelt.«
    Das konnte Lena auch nicht. Es interessierte sie auch nicht. Sie fragte sich, ob Louise einfach nur plapperte oder das Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken versuchte. Und wenn ja, warum.

    »Aber du hast recht«, sagte Louise, indem sie abermals das Thema wechselte. »Gute Pflege und hervorragende ärztliche Behandlung hin oder her, es ist schrecklich … und gehört übrigens auch auf die Liste der Dinge, die dir erspart bleiben, ganz nebenbei bemerkt.«
    Als Lena auch darauf nicht reagierte, legte sie ihr sanft die Hände auf die Schultern, und ihr Haar kitzelte an ihrer Wange. Ein noch heftigeres Prickeln lief nun über ihren Rücken und erlosch diesmal nicht, sondern

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