Wir sind die Nacht
traf sie der Anblick wie ein Schlag.
Das Gesicht, in das sie blickte, war das einer uralten Frau, zahnlos und eingefallen und kaum mehr als ein Totenschädel,
über dem sich morsche Haut spannte, eingerahmt von schlohweißem Haar. Es war das Gesicht einer Neunzigjährigen, das ihr wie das einer Hundertfünfzigjährigen vorkam und doch dasselbe war wie das der jungen Frau, die neben ihr saß. Wenn sie jemals daran gezweifelt hätte, dass diese uralte Frau tatsächlich Charlottes Tochter war, dann hätte ein einziger Blick in dieses Gesicht jeden Zweifel auf der Stelle zunichtegemacht. Selbst jetzt war sie auf ihre eigene Art immer noch wunderschön.
»Es tut mir … so unendlich leid«, flüsterte sie.
»Die Menschen haben da ein Sprichwort«, sagte Charlotte. Lena sah nun, dass ihre Augen feucht glänzten, ihr aber keine Träne übers Gesicht lief. »Eltern sollten nicht sehen, wie ihre Kinder vor ihnen sterben. Aber noch viel weniger sollten sie sehen, wie ihre Kinder vor ihren Augen altern und sterben.«
Lena schwieg betreten. Charlotte hielt weiter die Hand ihrer Tochter, die fünfmal so alt aussah wie sie selbst, und weinte trockene Tränen.
»Ich … wollte dich nicht stören«, sagte Lena unbehaglich. »Bitte entschuldige. Ich gehe lieber wieder.«
»Nein, bleib«, sagte Charlotte wieder. »Ich bin froh, dass du hier bist.«
Gehorsam hielt Lena inne, trat aber dann um das Bett herum, so weit es der eckige Halbkreis aus medizinischen Gerätschaften und Computern zuließ, als wäre irgendetwas in ihr darauf bedacht, einen möglichst großen Abstand zwischen Charlotte und sich zu bringen.
Die alte Frau im Bett regte sich, als hätte sie Lenas Eindringen gespürt. Einer der Computer neben Lena piepste auf einmal aufgeregt, stellte seinen Protest aber gleich wieder ein, als die Bewegungen der Greisin aufhörten.
»Sie stirbt«, sagte Charlotte. »Louise hatte recht. Ich hätte auf sie hören sollen.«
Lena sagte auch dazu nichts, und wozu auch? Charlotte brauchte niemanden, der mit ihr sprach. Sie brauchte jemanden, der zuhörte.
»Sie hat mich gewarnt, hierher zu kommen. Sie hat mich auf Knien angefleht, es nicht zu tun, aber ich wollte ja nicht auf sie hören.«
»Um dir das hier zu ersparen«, sagte Lena nun doch.
»Vielleicht wollte sie nicht, dass wir wirklich sehen, worum sie uns betrogen hat.« Charlottes Finger schlossen sich so fest um die Hand ihrer sterbenden Tochter, dass sie der alten Frau damit vermutlich wehgetan hätte, wäre sie wach gewesen. Diesmal begannen gleich zwei Monitore zu randalieren und hörten erst damit auf, als Charlotte ihren Griff lockerte.
»Betrogen?«
»Es gehört dazu, weißt du?«
Nein, Lena wusste nicht, und sie verstand auch nicht, was Charlotte meinte. Oder gar von ihr wollte.
»Das Altwerden. Aber es sollte andersherum sein«, sagte Charlotte. Nun begann doch eine einzelne schwere Träne über ihr Gesicht zu laufen. »Sie sollte hier sitzen und meine Hand halten und nicht umgekehrt. Es ist einfach nicht richtig.«
Worte schienen Lena nicht genug zu sein, um Charlotte zu trösten, und so ging sie wieder um das Bett herum, blieb hinter Charlotte stehen und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Charlotte versteifte sich, und Lena rechnete fest damit, dass sie ihren Arm abschütteln würde. Stattdessen jedoch hob sie gleich darauf die freie Hand und berührte sacht ihre Finger, und absurderweise war es nun Charlotte, deren Berührung Lena Trost zu spenden schien.
»Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«, fragte Lena.
»Gesprochen?« Charlotte schüttelte den Kopf. »Nie.«
»Nie? Aber Louise hat doch gesagt …«
»Ich habe sie ein paarmal gesehen, aber sie mich nicht. Ich war sehr vorsichtig.«
»Du hast ihr nie gesagt, wer du bist?«
»Natürlich nicht.« Charlotte lachte bitter. »Was hätte ich denn tun sollen? Zu ihr gehen und sagen: Hallo, ich bin deine Mutter? Ich sehe zwar weit jünger aus als du, und das wird auch für alle Zeiten so bleiben, aber ich bin trotzdem deine Mutter, also wundere dich nicht?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Aber ich habe auf sie aufgepasst. Ich wusste immer, wo sie ist und wie es ihr geht, und ich habe immer dafür gesorgt, dass es ihr gut geht. Eine anständige Pflegefamilie, die besten Schulen und später eine hervorragende Ausbildung … wie sich eine Mutter eben um ihr einziges Kind kümmert. Nur meine Liebe konnte ich ihr nie schenken, und das war vielleicht alles, was sie wirklich von mir
Weitere Kostenlose Bücher