Wir sind verbannt (German Edition)
Rücken, und er nahm mich fest in den Arm. Ich legte den Kopf an seinen Hals. So nah bei ihm, spürte ich nicht mehr das Geringste von der kalten Luft.
»Immer musst du mir Gewalt androhen«, sagte er, sein Atem warm an meinem Ohr. »Was soll das eigentlich?«
»Du bist doch derjenige, der mir beibringt, wie man Leute verhaut«, entgegnete ich.
»Willst du damit etwa sagen, ich hätte einen schlechten Einfluss auf dich?«, fragte er, während ich sein Grinsen förmlich spüren konnte.
»Oh ja, zweifellos«, erwiderte ich.
In dem Moment rief Meredith mich aus dem Laden, und ich setzte mich wieder aufrecht hin.
»Wir sollten jetzt wohl besser anfangen, den Wagen zu beladen«, sagte Gav.
Meredith wollte gerne das Arielle-Kostüm behalten. Außerdem hatte sie ein Perlen-Set und einen Stoff-Malkasten gefunden, die sie beide nicht mehr aus den Augen ließ. Dazu suchten wir noch einige Plüschtiere und Puzzle für die anderen Kinder aus, und ich nahm noch ein paar Spiele mit, für den Fall, dass wir abends irgendwann mal Langeweile bekämen und alle DVDs schon zehnmal angeschaut hätten. Am Schluss luden wir den ganzen Kofferraum voll.
Nach dem Zwischenstopp bei den Kindern in der Kirche fuhr Gav uns wieder zu Tessa. Meredith düste gleich ins Haus, um mit dem Perlenauffädeln anzufangen.
Gav stieg zusammen mit mir aus dem Wagen. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob das, was kurz zuvor passiert war, nicht bloß irgendein momentaner Ausrutscher war, der mit dem Schock zusammenhing. Aber das war es nicht. Als wir vor dem Wagen standen, küsste er mich noch einmal, und ich erwiderte seinen Kuss. Und ich war glücklich. Überglücklich. So wie ich es wer weiß wie lange schon nicht mehr war.
Selbst wenn ich darüber schreibe, muss ich noch lächeln.
Ist es nicht komisch, dass ich mich irgendwie ein bisschen schuldig fühle, weil ich glücklich bin, Leo? Ich meine, du hast schließlich Tessa, und zwischen uns ist es ja nie so gewesen, auch wenn ich mir das gewünscht hätte. Wir sind seit so langer Zeit noch nicht einmal mehr Freunde. Ich habe das gebraucht.
Und jetzt gibt es noch einen Grund weniger für mich, nervös zu sein, wenn ich dich endlich wiedersehe.
21. November
Keine Essensausfahrt heute, also habe ich den Vormittag damit verbracht, im Krankenhaus zu helfen. Langsam sehen die Flure nicht mehr so überfüllt aus. Ich hoffe, es liegt daran, dass die restlichen Menschen draußen in der Stadt schlau genug sind, um auf sich aufzupassen – und nicht in erster Linie daran, dass nicht mehr so viele von uns übrig sind, die sich anstecken können.
Ich habe das Frühstück an die Patienten im sogenannten »Zweiten Stadium« verteilt: kaum noch Hemmungen und übermäßige Kontaktfreudigkeit. Das ist gar nicht mal so schlecht. Eine der Schwestern schließt die Tür für mich auf, ich schiebe den Wagen mit Essen hinein, und die Patienten scharen sich sofort plappernd um mich und nehmen sich etwas davon, wenn sie hungrig sind. Sie freuen sich jedes Mal, mich zu sehen, so als sei ich das besondere Highlight auf ihrer Party. Und da sie sich ja gegenseitig Gesellschaft leisten, klammern sie auch nicht allzu sehr, wenn ich wieder gehen muss. Ich darf nur nicht darüber nachdenken, was in den nächsten Tagen mit ihnen passieren wird.
Heute war ich ein bisschen neben der Spur. Ich war in Gedanken immer noch bei gestern und bei Gav und überlegte, was genau da gerade mit uns passierte und ob ich ihn heute sehen würde und wenn ja, ob wir uns wieder küssen würden. Ich nahm Shauna in dem Zimmer überhaupt nicht wahr, bis mich jemand am Ellenbogen zog. Ich drehte mich um, und da war sie.
Ihre Nase und ihre eine Stirnhälfte, die sie ständig kratzte, waren ganz rot, ihre Lippen aufgesprungen, aber ihre welligen Haare hatten irgendwie noch immer diesen seidigen Glanz. Und sie stand in ihrem Krankenhaushemd da, als trüge sie den neuesten Modetrend. Viel zu viel naturgegebenes Selbstwertgefühl, um sich unterkriegen zu lassen. Einen kurzen Moment lang kam ich mir vor, als hätte man uns zwei Monate zurück in die Schul-Cafeteria gebeamt.
»Oh mein Gott!«, rief sie. »Kaelyn, was machst du denn hier? Hilfst du etwa hier aus? Mensch, ist das cool, dich zu sehen! Du lässt dir ja den Pony rauswachsen – sieht ziemlich gut aus. Wie geht’s den anderen? Ich hab seit Ewigkeiten niemanden mehr aus der Schule gesehen!«
Bevor ich noch meine Überraschung überwunden hatte, rauschte ein älterer Mann an uns vorbei und
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