Wir sind verbannt (German Edition)
strich Shauna über den Kopf, als sei sie irgendein Haustier. Ich kannte ihn noch von vor ein paar Tagen, als er eine geschlagene Stunde damit zugebracht hatte, mir zusammenhanglose Geschichten über seine Jahre bei der Küstenwache zu erzählen.
»Diese junge Dame hier ist wieder gesund geworden«, verkündete er jetzt und deutete auf mich. »Das ist ein Zeichen! Wir werden alle wieder gesund werden. Schön, dich zu sehen. Schön, dich zu sehen!«
Shauna starrte mich mit offenen Mund an. »Du warst krank, und jetzt geht es dir wieder gut?«, fragte sie ungläubig. »Ehrlich?«
Nell hatte mich davor gewarnt, über das Virus zu sprechen, wenn die Leute dieses Stadium erreicht hatten, weil man nie weiß, wie sie reagieren. Die meisten von ihnen scheinen zu vergessen, dass sie etwas anderes als bloß eine Erkältung haben, wenn man sie nicht dran erinnert. Aber ich sah keinen Grund zu lügen, wenn sie sich so direkt danach erkundigte. Hauptsächlich fragte ich mich allerdings, wie der ältere Mann überhaupt davon erfahren hatte. Er musste es bei jemandem vom Krankenhauspersonal aufgeschnappt haben.
»Ja«, antwortete ich und bemühte mich, optimistisch zu klingen, als ich noch hinzufügte: »Und ein paar andere sind auch wieder gesund geworden.«
»Wie das zum Teufel?!«, rief sie. Ich hatte ganz vergessen, wie schrill ihre Stimme werden konnte, wenn sie in Rage geriet. » Du hast es besiegt? Was ist denn an dir so Besonderes?«
Ich machte den Mund auf, brachte jedoch kein Wort hervor. Was sollte ich sagen? Dass an mir nichts Besonders war, dass ich einfach nur Glück gehabt hatte? Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sich damit zufriedengegeben hätte.
Shauna machte weiter, mit immer schmaler werdenden Augen. »Du hältst dich wohl für was Besseres, weil du mal fünf Jahre in Toronto gewohnt hast«, sagte sie, als ich einen Schritt zurückwich. »Aber du bist eine Loserin. Du redest kaum mit den Leuten und verbringst die ganze Zeit damit, die Nase in deine Bücher zu stecken oder im Park irgendwelche dämlichen Eichhörnchen zu beobachten. Warum solltest gerade du gesund werden?«
Die Worte trafen mich, als hätte sie mir mitten ins Gesicht geschlagen. Mir wurde ganz heiß, und ich presste die Lippen mit einer Wut zusammen, von der ich nicht mal geahnt hätte, dass sie in mir steckt. Und warum sollte ich das nicht? , hätte ich am liebsten zurückgebrüllt.
Die anderen Patienten im Raum hatten Shaunas Aufregung mitbekommen und sich um uns herum versammelt, um in beruhigendem Tonfall auf sie einzureden und ihr über den Rücken zu streicheln. Ich schluckte und streckte die Hand nach der Tür aus. Sie war krank, sie konnte nichts dafür. In dem Moment war es besser, zu gehen und alle wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Den Rollwagen würde ich später abholen.
»Ja!«, rief Shauna mir nach. »Lauf nur weg! Warum solltest du auch hierbleiben? Mom, Dad, Abby – die haben es ja sicher auch alle geschafft!«
Sie schrie immer noch weiter, als ich die Tür schon hinter mir schloss. Die Schwester sah mich verwundert an, und ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. Ich lief davon und blieb erst wieder stehen, als ich im Krankenhausarchiv ankam. Dort drin ist es schön ruhig.
Ich hockte mich auf den Boden und schlang die Arme um die Knie. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich hatte immer noch Shaunas Worte im Ohr und fühlte mich verunsichert. Fragte mich, ob sie womöglich recht hatte, ob ich vielleicht wirklich irgendwie jemand anderem seine Chance genommen hatte, Shauna’s Eltern womöglich oder ihrer Schwester oder all den Ärzten und Schwestern, die gestorben waren. Oder Mom.
Doch ich war auch immer noch ganz schön wütend. Und während ich da so hockte, vertrieb die Wut in mir die Zweifel.
Was spielte es schon für eine Rolle, was ich vor all dem gewesen war? Wen interessierte es, dass Shauna ganz oben auf der Popularitätsleiter stand und ich ganz unten? Ich hatte überlebt. Das war eine Tatsache. Ich bin noch hier und die anderen nicht, und jetzt tue ich alles, damit das auch zu etwas gut ist.
Und das ist eine Menge mehr, als Shauna von sich behaupten kann.
Ich wartete noch etwa zehn Minuten im Archiv, so lange, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Dann ging ich zurück und holte den Rollwagen ab, ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Als ich aus dem Zimmer kam, strich mir die Schwester über den Arm und fragte, ob es mir gutginge.
»Ja«, antwortete ich. »Es geht mir gut.«
Und weißt du
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