Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
räumliches Verhältnis zwischen der inneren und der materiellen Welt: Eignet man sich ein Objekt an, dehnt sich das materielle Selbst aus, verliert man eine Sache, schrumpft es zusammen. James unterscheidet zwischen engherzigen und weitherzigen Menschen. Eine engherzige Person verschanzt sich, zieht sich von allem zurück, was sie nicht sicher besitzen kann. Ihr Selbst ist klein mit scharf umrissenen Grenzen. Ein weitherziger Mensch dagegen hat ein großes Selbst, dessen Grenzen fließend sind. James führt das nicht sehr viel weiter aus, aber ich stelle mir jemanden vor, der auch Sachen, die ihm gar nicht gehören, den schönen Garten der Nachbarn, die Bücher in der öffentlichen Bibliothek, als Teil seiner Person wahrnimmt und sich an deren Existenz freut.
Nach James haben zahlreiche weitere Wissenschaftler die identitätsstiftende Bedeutung von Dingen betont. Der Persönlichkeitspsychologe Gordon Allport beispielsweise beschrieb in den 1930 er Jahren, wie das menschliche Selbst entsteht. Im Laufe der Kindheit und Jugend, postulierte er, dehnt ein Mensch sein Selbstgefühl auf immer mehr Dinge aus, die er als die eigenen betrachtet, und gewinnt so seine ganz eigene Identität. Auch der englische Entwicklungspsychologe Donald Winnicott hob die Wichtigkeit von materiellen Objekten für das kindliche Wachstum hervor. Von seiner berühmten Schmusedecke wird im nächsten Kapitel noch ausführlich die Rede sein.
In der Konsumforschung befasste man sich ebenfalls mit der Rolle von Dingen. »Die Tatsache, dass wir sind, was wir haben, ist vielleicht der wichtigste und weitreichendste Aspekt des Konsumentenverhaltens«, so der Wirtschaftsprofessor Russell Belk. Er entwickelte in den 1980 er Jahren das Konzept des erweiterten Selbst ( extended self ), das sich aus dem eigentlichen Selbst und den Besitztümern eines Menschen zusammensetzt. Wie James fasst Belk den Begriff des Besitzes weit und zählt darunter Menschen, Ideen, Orte, aber vor allem den materiellen Besitz, etwa geliebte Dinge, Geschenke und Geld. Sein Ansatz fand unter Marketingleuten große Beachtung, was wohl nicht weiter verwunderlich ist: Wer sich für das Verhalten von Käufern interessiert, den muss die Erkenntnis faszinieren, dass ein Auto oder eine Halskette genauso Teil der menschlichen Identität sein kann wie ein Bein oder der Intellekt.
»Die Dinge, die uns umgeben, können nicht getrennt werden von dem, was wir sind«, meinen auch der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi und der Soziologe Eugene Rochberg-Halton. Sie entwickelten ein interessantes kulturorientiertes Konzept des Selbst. Das Identitätsgefühl eines Menschen entsteht, so ihre These, indem er seine Aufmerksamkeit auf die ihn umgebende Kultur lenkt. Materiellen Objekten kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu: Mit ihrer Hilfe lässt sich Kultur ganz handfest erfahren, denn sie sind Ausdruck von sozialen und historischen Strukturen, übertragen Traditionen und kulturelles Wissen. Schon Kinder lernen durch ihr Spielzeug, was in ihrer Kultur üblich ist; geschlechtsspezifische Kleidung beispielsweise vermittelt, welche Rollen Männern und Frauen zugewiesen werden. Als Mittler zwischen Individuum und Kultur haben Dinge große Macht. »Wir formen die Dinge und später formen die Dinge uns«, schreiben die Forscher. »[Sie] stellen nicht nur Werkzeuge dar, die wir in die Hand nehmen und weglegen, wie es uns gerade passt; sie bilden den Erfahrungsrahmen, der Ordnung in unserem sonst konturenlosen Selbst schafft.«
Aussagen wie diese sind alles andere als akademisch-abgehobenes Philosophieren. Die Geschichten der Katastrophen- und Einbruchsopfer haben gezeigt, wie eng Menschen im wirklichen Leben mit ihren Besitztümern verbunden sind. »Das Feuer hat alles zerstört, was ich hatte; aber es hat auch alles zerstört, was ich war«, sagt der Mann, der seine Habe im Oakland-Feuer verloren hat. Besser kann man die enge Beziehung zwischen Mensch und Besitz nicht beschreiben. Kleidung, Möbel oder Gemälde sind offenbar nicht einfach Sachen, die nützlich sind oder Freude machen. Bewusst oder unbewusst betrachten wir unseren Besitz als einen Teil von uns selbst, und das »nicht in einem mystischen oder metaphorischen Sinne, sondern ganz real und konkret«, wie auch Csikszentmihalyi und Rochberg-Halton betonen.
Wie eine Zwiebel: unser Selbst
Die Einheit zwischen Selbst und Besitz ist so real, dass man sie empirisch nachweisen kann. Der sogenannte Zwanzig-Aussagen-Test beispielsweise besteht
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