Wir wollen Freiheit
11. September 2001 hat die Pop-Islam-Bewegung großen Zulauf gehabt: »Wie viele andere hatte ich damals das Gefühl, dass ich etwas für den Islam tun wollte und das war ein großer Schub für Organisationen wie die
Muslimische Jugend Deutschlands
und die
Lifemakers
«, erzählt der Islamwissenschaftler und Buchautor Muhammed Sameer Murtaza über Skype. Allerdings habe das Engagement in den letzten Jahren stark nachgelassen: Die
Muslimische Jugend
, die größte deutschsprachige Jugendorganisation, der eine Nähe zur
Muslimbruderschaft
nachgesagt wird, hat an Zulauf verloren. Viele
Lifemakers -Gruppen
, die sich – von Amr Khaled inspiriert – in verschiedenen deutschen Städten zusammengetan hatten, lösten sich auf. »Ich glaube, ihr Fehler war, auf Fun und das Gemeinschaftserlebnis zu setzen. So etwas bietet ja auch die deutsche Gesellschaft«, sagt er. Was hingegen fehle, sei vernünftige islamische Bildung auf Deutsch. »Das holen sich immer noch viele bei den
Wahabiten
. Einfach, weil es bei denen angeboten wird.«
Es gibt zwei Reaktionen auf die Krise: Einerseits engagieren sich immer mehr Jugendliche in nicht-islamischen Zusammenhängen. Sie wollen nicht mehr in den Muslim-Only Zeltlagern |194| ihre Sommerferien verbringen und in islamischen Jugendhäusern »auftanken«, wie es im Jargon der
Muslimischen Jugend
heißt. Viele haben sowieso genug von dem undurchschaubaren Einfluss der
Muslimbruderschaft
in Deutschland, die überall mitzumischen scheint, aber keiner weiß, wer dazugehört, wer die Entscheidungen trifft und wo das Geld herkommt.
Stattdessen gehen viele junge Muslime in Parteien, engagieren sich für Umweltschutz oder in der Studentenvertretung. Auch in Deutschland sehen sich immer mehr in erster Linie als Bürger: Sie haben politische Überzeugungen und Interessen und dann sind sie auch noch Muslime. Das ist aber ihre Privatangelegenheit. Bisher sahen viele dies als einen individuellen Weg. Ihr Verständnis vom Islam ermuntert sie dazu, sich zu engagieren, aber das hängen sie nicht an die große Glocke. Diese jungen Muslime sind zwar inzwischen überall, aber sie fallen nicht auf. Sie haben es – ähnlich wie die neue Bewegung in Ägypten – nicht nötig, ihr »Muslimsein« zu betonen. Bisher haben sie es vielleicht sogar eher versteckt. Nach dem Motto: »bloß nicht auffallen«, wie Yasmina Abdel Kader es beschrieben hat.
Diesem Trend tut der frische Wind gut, der übers Mittelmeer weht. Das Selbstbewusstsein der Revolutionäre von Kairo und Tunis plus ein paar neue islamische Denkanstöße vom Tahrir-Platz werden hoffentlich dazu führen, dass genau diese Jugendlichen in Zukunft sich stärker auch in die islamische Debatte in Deutschland einmischen.
Da sind solche Stimmen dringend gefragt, denn von der Krise des
Pop-Islam
hat vor allem eine andere Bewegung profitiert: die
Salafisten
, oder
Wahabiten
, wie sie in Deutschland auch oft genannt werden. Von ihnen kann man nicht behaupten, |195| dass sie besonders zurückhaltend und leise sind. Im Gegenteil: Sie tun alles, um aufzufallen. Je radikaler ihre Forderungen, desto mehr Medieninteresse und desto mehr Zulauf haben Bewegungen wie die um den umstrittenen Prediger Pierre Vogel. Der ehemalige Profi-Boxer kam vor zehn Jahren zum Islam und gilt inzwischen als der wohl einflussreichste Muslim in Deutschland. Er steht für einen sehr einfachen schwarz-weiß Islam und ist besonders beliebt bei Konvertiten und Muslimen, die gerade ihre Religion wiederentdeckt haben. Er hat mehrere Gangsta-Rapper für den Islam gewonnen und mit dem Plan, eine Islamschule in Mönchengladbach zu bauen, für Aufregung gesorgt. »Was diese Gruppen so attraktiv macht, sind auch ihre ganz klaren Aussagen: Während wir sagen, man kann nach islamischer Vorstellung einen Bart tragen oder auch nicht und die Jugendlichen auffordern, die Texte der Gelehrten zu lesen und sich eine Meinung zu bilden, sagen die
Salafisten
: Bart tragen ist Pflicht. Punkt. Das ist viel praktischer, dann braucht man nicht so lange nachzudenken«, sagt Mohammed Hajjaj und bezieht sich auf den Ansatz von Scheich Qaradawi, der einen »Islam der Mitte« predigt und die Gläubigen zum Nachdenken auffordert.
Die
Salafisten
erfüllen noch ein Bedürfnis: Sie sind das perfekte Feindbild. Sie leben einen Islam, so wie er oft in der Zeitung steht: radikal, nicht-integrationsfähig und unberechenbar. Pierre Vogel dient in Talk-Shows allzu oft als Buh-Mann. Er vertritt die
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