Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
denn? Wie denn? Wir waren ein wenig sauer auf unsere ergrauten Eltern, die fröhlich der sicheren Rente entgegenmarschierten und gleichzeitig von uns verlangten, wir sollten uns mal lockermachen. Das natürliche Eltern-Kind-Verhältnis, wonach das Kind Dummheiten macht und die Eltern es dafür belächeln, kehrte sich bei uns geradezu um.
Die Jugenderinnerungen unserer Eltern, die Erzählungen von Friedensdemos und nächtelangen Diskussionen, erschienen uns naiv wie ein Disney-Film. So friedlich, so harmlos, so spießbürgerlich. Unsere Wut wuchs langsam. Als hätten die damals tatsächlich die Welt verändert! Diese Wut hatte nie die Sprengkraft vorheriger Generationenkonflikte, weil die meisten meiner Bekannten genau wie ich ihre Eltern im Grunde immer mochten. Sie waren ja verständnisvoll, redeten uns kaum in unser Privatleben hinein und waren vor allem immer richtig stolz auf uns. Sie hatten uns perfekt gefördert, wir durften allerlei Sportarten und Musikinstrumente ausprobieren. Sie hatten uns ein Studium ermöglicht. Sie waren nett und aufgeschlossen, klug und tolerant. Und doch gingen sie uns auf die Nerven, wie sie da in ihren Kleinstädten saßen, ihre Häuschen in Schuss hielten und von all dem, was draußen passierte, nichts mitbekamen.
Und wie sie immer wieder an uns herumnörgelten: Dass wir nicht politisch aktiv seien, Demos organisierten, etwas gegen das Unrecht der Welt tun würden. Kurz: dass wir so brav und angepasst seien, so ohne Spirit. Klar, sagten wir uns dann, wir hätten auch ein bisschen rebelliert, wenn unser Studienabschluss uns selbstverständlich in eine lebenslange Festanstellung geführt hätte, wie es bei unseren Eltern der Fall gewesen ist. Aber wir waren eben nicht mit dem Wirtschaftswunder, sondern mit der Wirtschaftskrise erwachsen geworden. Vollbeschäftigung kannten wir nur noch aus den Geschichtsbüchern. Da blieb keine Zeit für Sentimentalität. Pragmatismus war gefragt.
Und da, wo wir selbstbewusst für unsere Rechte eintraten, da war es auch wieder nicht recht. Vielen Unternehmen galten wir schließlich als verwöhnt, übermäßig selbstbewusst und anspruchsvoll. Auch hier ist der Unterschied zu jenen älteren Arbeitskollegen, die in bequemen Tarifverträgen seit 30 Jahren im selben Unternehmen arbeiten, unübersehbar.
Einerseits verachteten wir sie für ihre mangelnde Flexibilität, für ihre kindische Anhänglichkeit an einen Arbeitgeber, dafür, dass sie Konflikte in der Firma lieber kleinredeten oder totschwiegen, als einen Streit mit dem Chef zu riskieren. Anderseits beneideten wir sie darum, dass sie praktisch unkündbar sind, das Büro stets pünktlich verlassen konnten und dann auch noch offensichtliche Missstände so gelassen übersahen, dass es uns ganz rasend machte.
Aus unserer Wut wurde so langsam jenes typische Selbstbewusstsein, das sich aus dem Gefühl ergab, die Alten langsam, aber sicher abzuhängen. Was wissen die schon von der Welt? Allmählich wuchs in uns die Erkenntnis, dass es nun auf uns ankam. Wir wollten ja auch etwas verändern, wir wollten etwas bewegen. Und zwar nicht irgendwo in der Dritten Welt, sondern genau hier, in unserer Umgebung. Wir wollen Politik nicht mehr als abstraktes System begreifen, als gesellschaftstheoretisches Konstrukt. Wir wollen eine Politik, die für den Menschen gemacht ist, wir wollen ihren Einfluss auf unser Leben thematisieren. Wir wollen endlich konkret wissen, was die Politik für uns tut.
Für diese Egozentrik müssen wir viel Kritik einstecken. «Es langweilt euch, Menschen und Ideen beim Mächtigwerden zuzusehen. Politik begreift ihr als ständige Selbstbeobachtung», beschrieb etwa die Politikdozentin Christiane Florin ihre jungen Studenten in der
Zeit
. Und: «Politik ist das, was ihr dazu macht, weil es euch persönlich angeht.»
Aber wenn Politik nicht für die Menschen ist – für wen ist sie dann? Wenn wir vor lauter Skandalen, Machtkämpfen, Kungeleien und Richtungsänderungen gar nicht mehr mitkriegen, was davon eigentlich bei uns ankommt? Was bringt uns die Beschäftigung mit Machtstrukturen – wenn wir doch eigentlich wissen wollen, wie sich die Politik die nächsten fünf Jahre vorstellt?
Ist das nun egozentrisch? Vielleicht. Doch es ist erheblich leichter, in Zeiten stetig wachsenden Wohlstands an das große Ganze zu denken, als in Zeiten leerer Kassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es für Deutschland permanent bergauf, da tat die eine oder andere fehlgeleitete Geldleistung vielleicht
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