Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
nicht allzu sehr weh. Schließlich gab es für jeden irgendwann irgendwie irgendwas. Genau bis zu dem Zeitpunkt, als wir erwachsen wurden. Nun liest und hört man: Das Armutsrisiko in Deutschland nimmt zu, die Unsicherheit auch, die Verteilungskämpfe ebenfalls. Und der Staat ist verschuldet, Europa schlingert am Rande der Pleite, in den kommenden Jahren heißt es deswegen: sparen, sparen, sparen.
Der Umkehrschluss ist glasklar: Geld ist knapp, staatliche Mittel auch – deswegen muss man umso besser überlegen, wofür man sich einsetzt. Es kann nicht mehr für alle bergauf gehen, Politik nach dem Gießkannenprinzip funktioniert nicht mehr. Der Staat muss sich entscheiden, die Politiker müssen sich entscheiden. Und ihre Entscheidungen besser als früher begründen. Sinnlose Geldgeschenke an parteinahe Wählergruppen werden heute noch viel hitziger bekämpft als vor ein paar Jahren. Weil mit jeder Steuererleichterung für Hoteliers, mit jeder Leistung à la Betreuungsgeld Geld für andere wichtige Projekte verloren geht. Für den Kita-Ausbau zum Beispiel oder für die Bildung.
In der Suche nach pragmatischen Lösungen für die wichtigsten Einzelprobleme fühlten sich viele nun bei den Piraten am besten aufgehoben, die vor allem zu Beginn ihrer Erfolgswelle stets stolz betonten, dass sie sich in keine Schublade stecken lassen und schlicht die Mitglieder über einzelne Positionen entscheiden lassen wollen – je nach Anlass liberal, links, konservativ oder progressiv. Das schien perfekt zu passen auf meine Generation, die sich nicht festlegen lassen will und die sich vorbehält, in Grautönen anstelle von Schwarz-Weiß-Kontrasten zu denken – zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Denn Ideologiefreiheit birgt, wenn man sie zu weit treibt, auch Gefahren. Sie kann allzu leicht in politische Naivität umschlagen. So zu bewundern bei den Piraten, die in vielen politischen Themen wie dem Feminismus bei null anfingen und jetzt erst den Diskussionsstand erreicht haben, auf dem andere Parteien, um nicht zu sagen die Gesellschaft sich schon seit 30 Jahren befinden: Männer und Frauen sind strukturell nicht gleichberechtigt.
Es war geradezu schmerzhaft, mitzuverfolgen, welche Lernschritte die Partei dort im Schneckentempo durchlief: Erst stritten ihre Vertreter ab, dass es überhaupt ein Problem gibt – schließlich könnten Frauen ja der Partei beitreten oder kandidieren, wenn sie nur wollten. Garniert wurde das gern mit Binsenweisheiten wie: «Frauen trauen sich eben nicht, vor ein paar hundert Leuten eine Rede zu halten, und arbeiten lieber im Hintergrund.»
Dann wurde ein gern genanntes Argument aufgegriffen: Nicht das Geschlecht dürfe über einen Posten entscheiden, sondern die Leistung. Ein Argument, das insbesondere dadurch ad absurdum geführt wurde, dass männliche Piratenvertreter in regelmäßigen Abständen Böcke schossen, über die man als Zuschauer nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen konnte: Ausflüge auf braunes Terrain, gegenseitige Beschimpfungen und andere kleine Skandälchen, die aufzuzählen zu ermüdend wäre. Da kann es ja mit der viel gerühmten «Kompetenz» nicht so weit her sein.
Natürlich durften auch ein paar Beschimpfungen nicht fehlen: Da wurde aus der Frauenquote schnell mal ein «Tittenbonus» und Feministinnen zu «männerhassenden, frigiden Schlampen». Erst langsam setzte sich bei den Piraten die Erkenntnis durch, dass es auch andere Gründe als «selbst schuld» für den Frauenmangel in der Partei gab – männerdominierte Netzwerke, familienunfreundliche Stammtischzeiten. Die ganze Diskussion garnierten sie mit fröhlicher Unwissenheit über die Grundlagen des Feminismus, mit Vorurteilen, wie man sie heute nicht einmal mehr in der CSU findet. Oder wie sie zumindest kein Politiker mit Verstand je aussprechen würde.
Und der Feminismus ist bei weitem nicht das einzige Gebiet, auf dem die Piraten noch ein paar Nachhilfestunden benötigen. Immer wieder fallen sie durch verbale Tiefschläge auf, ein antisemitistischer Ausreißer pro Quartal gehört da schon fast zum Standardrepertoire. Mal sinnieren sie über die «Holocaustindustrie», mal setzen sie den Holocaust in Verbindung mit dem Nahostkonflikt, mal relativieren sie die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg, mal wollen sie Holocaustleugnung legalisieren, mal finden sie «den Juden an sich» unsympathisch – immer garniert mit jener Formel, die schon seit jeher als Rechtfertigung für diejenigen dient, die
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