Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
gerne auch mal mit dem Zusatz «War doch nur Spaß, und jeder, der mich kennt, weiß doch, dass es nur Spaß ist» daher.
Ich hatte in diesem Zusammenhang einmal ein erhellendes Gespräch mit einem Piraten. Er war derjenige, der auf Twitter schrieb, ihm sei «der Jude an sich unsympathisch», weil «er» einen «sinnlosen Krieg führe», weil «er» eine «Kackpolitik» betreibe. Und der übrigens danach noch in den Kreisvorstand gewählt wurde. Ich hatte ihn und seine Äußerung in einem Text über rechte Tendenzen in der Piratenpartei erwähnt. Ernsthaft empört telefonierte er sich durch die halbe Redaktion der
Süddeutschen Zeitung
, bis er mich an der Strippe hatte, um sich dann zu beklagen: «Sie kennen mich doch gar nicht, wie können Sie schreiben, dass ich ein verkappter Nazi bin! Alle, die mich kennen, wissen, dass ich kein Antisemit bin!» Dass seine Äußerung geradezu beispielhaft antisemitisch war, schien ihm in diesem Zusammenhang nicht einzuleuchten.
Diese politische Naivität der Piraten teilen viele Junge überhaupt nicht. Ideologien zu misstrauen, bedeutet ja nicht automatisch, überhaupt keine Werte zu haben. Ganz im Gegenteil. Heißt es nicht immer, dass wir extrem werteorientiert sind? Vielen von uns ist zum Beispiel die Familie wichtig – was Soziologen dazu veranlasste, unserer Generation das Etikett «konservativ» aufzukleben. Wir wollen allerdings auch nachhaltig leben, wir wollen Gerechtigkeit, gleiche Chancen für alle – und stehen so dem rot-grünen Lager oft nahe. Wir wollen Feminismus ohne Männerhass, wir wollen Globalisierung ohne Ausbeutung. Wir kochen selbst Marmelade ein und verfolgen trotzdem unsere Karriere. Eine Zuordnung in alte Lebensformen wie «konservativ – progressiv», «marktliberal – sozialistisch» ist bei so viel Individualismus nicht möglich. Hier wird besonders deutlich, wo der Unterschied zwischen einem abgeschlossenen, ideologischen Weltbild und einer starken Werteorientierung liegt. Man könnte auch böse sagen: Nix passt zusammen bei diesen Jungen! Heute sind einfach die Trennlinien zwischen verschiedenen Lebensformen weniger scharf.
Und natürlich sind viele alte Kampfpositionen längst Mainstream geworden. Abtreibungen werden nicht mehr länger als Straftat verfolgt, junge Frauen studieren und arbeiten ziemlich selbstverständlich, alle wollen auf einmal die Atomkraftwerke abschalten, selbst junge Unionswähler leben in WG s. Und auf der anderen Seite halten auch die meisten jungen Leute, die sich eher dem linken Spektrum zugehörig fühlen, den Kommunismus für gescheitert, wollen Kinder kriegen und vielleicht irgendwann heiraten. Umweltschutz ist längst Konsens in der Gesellschaft, die «wilde Ehe» längst der Normalfall. Kein Pärchen muss seinen Eltern mehr getrennte Schlafzimmer vorspielen, obwohl es eigentlich schon ewig im selben Bett schläft.
Unvergessen ist in diesem Zusammenhang die kurze und bizarre Diskussion, als Piratin Julia Schramm via Twitter ihre Verlobung verkündete – samt Foto von ihrem Verlobungsring. Einige Parteifreunde fanden das zu spießig, um nicht zu sagen: peinlich. Weil die Piratenpartei sich für die Abschaffung der Privilegien für heterosexuelle Ehen einsetzt zum Beispiel. Doch die meisten jungen Leute fanden vielmehr die Diskussion selbst peinlich. Dass jemand, der für die Gleichberechtigung verschiedenster Lebensformen eintritt, auch für sich selbst in Anspruch nimmt, diejenige zu wählen, die er haben möchte – und sei es eine Hochzeit –, ist für sie selbstverständlich. Deswegen kann man ja trotzdem noch dagegen sein, dass diese Hochzeit Steuervorteile bringt, und sich stattdessen für ein höheres Kindergeld einsetzen.
Über Spießigkeit entscheidet nicht mehr die Einstellung zum Heiraten. Es gibt verheiratete Paare, die in WG s wohnen, gemeinsam die Welt bereisen, von einem Tag auf den nächsten leben. Und es gibt unverheiratete Paare, die zusammen Wohnungen kaufen, Kinder kriegen, also eher konventionell zusammenleben. Und vor allem lässt kein Lebensentwurf mehr so leicht auf die Parteizugehörigkeit schließen: Auch überzeugte Grünen-Wähler sind zuweilen tiefgläubig, auch CDU -Anhängerinnen gehen nach der Geburt ihres Kindes zuweilen wieder arbeiten, man denke nur an die prominenteste Vertreterin, Familienministerin Kristina Schröder. Und ja, es soll sogar Investment-Banker und Unternehmensberater geben, die SPD wählen.
Das Internet: Für euch ist es eine Bedrohung, für uns ist es
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