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Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Titel: Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Beitzer
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und Mädels knutschten, von denen wir nur den Vornamen kannten. Sicher, auch wir hatten unseren Spaß, erlebten tolle Dinge – aber so richtig sorglos waren wir eigentlich nie.
    Wir lernten letztendlich im Studium vor allem, unser Leben zu optimieren anstatt es nur zu leben. Wir sahen die coolsten und typischsten Vertreter der Generation X zu jämmerlichen Berufsjugendlichen verkommen, die noch mit Ende 30 Verantwortung scheuten. Und wir nahmen uns vor, dass es uns so nicht ergehen würde, dass wir uns nicht von Versprechungen blenden, von einer prächtigen Gegenwart in die Irre führen lassen würden.
    Immer noch wünschten wir uns Dinge, die halten: Beziehungen zum Beispiel, die wir teilweise über große Distanzen hinweg aufrechterhielten. Wir skypten und chatteten mit unseren Liebsten am anderen Ende der Welt, weil enge Freundschaften auf einmal ein kostbares Gut waren. Viel kostbarer als spinnerte Ideen. Wir wollten nicht die ganze Welt verändern, sondern nur unsere kleine Welt gegen die Unordnung da draußen verteidigen.
    Als die Ersten von uns ihr Studium beendeten, brach wie zur Bestätigung unserer Befürchtungen eine Wirtschaftskrise aus, für die schnell gierige Banker verantwortlich gemacht wurden – und für die dann doch alle bezahlen mussten. Einige meiner Freunde fingen in Betrieben an, die kurz darauf pleitegingen, manche bislang als Top-Adressen gehandelten Unternehmen – Audi, VW , BMW – stellten erst gar niemanden mehr ein. Wir schluckten Kurzarbeit, Zeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse. Und gewannen erstmals wieder etwas Zuversicht, als Deutschland der Krise zu trotzen schien. Was, das wussten wir genau, nicht das Verdienst der Politik oder der Wirtschaftsbosse war, sondern unser, die wir den Abbau des sozialen Netzes und beständiges Sinken des Reallohns weitgehend klaglos hinnahmen. Die wir unseren Kinderwunsch gewissenhaft aufschoben, um unserem Leben bloß keinen weiteren Unsicherheitsfaktor hinzuzufügen – irgendwann würde sie schon kommen, die Festanstellung. Oder die Beförderung.
    Europa, vielleicht die einzige voll gültige, in jedem Fall aber die letzte große Utopie, mit der wir aufgewachsen waren, schlittert seit kurzem auf den Abgrund zu. Wir sahen unsere Altersgenossen in Spanien, Griechenland und Portugal auf die Straße gehen, hörten schreckliche Zahlen: 25  Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Wie sollte man da noch Hoffnung haben? Unsere Gefühle waren zwiegespalten: Einerseits waren wir schrecklich wütend auf diejenigen, die uns falsche Versprechen gemacht haben. Auf diejenigen, die in uns und allen anderen jahrelang den Glauben an den freien Markt geschürt hatten. Unsere Altersgenossen in den südlichen Ländern tun uns bis heute fürchterlich leid.
    Aber ein wenig waren wir auch erleichtert, dass es uns immerhin noch besser ging, und hofften, dass die Krise weiterhin an Deutschland vorbeiziehen würde. Dafür fühlten wir, die wir Auslandssemester in Madrid und Rom verbracht hatten, uns auch ein wenig schuldig. Wir bedauerten die Leute in Griechenland – trotzdem befürchteten wir, dass sie uns mit in den Abgrund reißen würden, wenn allzu viel deutsches Geld dorthin wanderte.
    Platz für weltbewegende, revolutionäre Visionen blieb uns unser Leben lang kaum. Wir bewegten uns lieber in kleinen Schritten vorwärts, immer einen Fuß vor den anderen, stets auf ein Scheitern gefasst. Für Marx, Lenin und wie sie alle hießen hatten wir eher historisches Interesse, ihre Theorien waren für uns eher ein Geschichtsbuch als eine Anleitung für die Verwirklichung einer idealen Gesellschaft – wie das vielleicht mal bei unseren Eltern der Fall gewesen war, die sich tatsächlich eine sozialistische Weltrevolution vorstellen konnten. Niemand von uns hätte Marx’sche Textstellen mit dem Marker angestrichen, in der Hoffnung, von dem ollen Theoretiker die Welt erklärt zu bekommen. Seit der Jugend unserer Eltern hatte sich einfach viel geändert. Selbst Habermas und Popper elektrisierten uns nicht mehr. Die meisten dieser Theorien hatten mit unserem Leben und unseren Sorgen nichts zu tun.
    Wir lernten vielmehr nach und nach, dass Theorien im Allgemeinen nicht fürs wirkliche Leben gemacht zu sein scheinen. Noch ein Jahr vor Ausbruch der Wirtschaftskrise lehrten uns Wirtschaftsprofessoren an meiner Universität, dass der Markt bis auf wenige Ausnahmen schon alles irgendwie regelt. Dass vom Außenhandel letztlich jeder profitieren, sich der Wohlstand in der freien Welt

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