Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
entscheidender Bedeutung. Man muß nicht nur einsehen, daß die Konsequenzen uneingeschränkten Weitermachens inakzeptabel und schlimm sind, sondern man muß außerdem erkennen, daß diese Konsequenzen noch schlimmer sind als das Resultat, das sich einstellen würde, wenn man die Bremse zöge. Wenn die Auseinandersetzungen auf der untersten Ebene beendet sein sollten (so, wie es meiner Überzeugung nach der Fall sein sollte) und die Umrisse einer Lösung auf der zweiten Ebene bereits sichtbar sind, müssen die Fragen auf der dritten Ebene sehr viel klarer artikuliert werden, als es bis jetzt der Fall ist. Um unsere politischen Diskussionen voranzubringen, benötigen wir einen gründlichen Überblick über alle Alternativen zum alltäglichen Trott, der kenntnisreiches und phantasievolles Denken beizusteuern vermag, sowie möglichst sorgfältige und präzise Skizzen der Folgen, die sich für den Menschen ergeben werden. Auf dieser Ebene spielt das Expertenurteil eine noch wichtigere Rolle als auf der zweiten, denn welche spezifischen Szenarios für wahrscheinlich gehalten und ausgewählt werden, hängt seinerseits von der Gewichtung der Stärke von Faktoren ab, die jeder Fähigkeit zur Angabe numerischer Schätzwerte spotten; und der nächste Schritt, bei dem die Chancen des Eintretens dieser Faktoren miteinander verglichen werden müssen, würde Urteile voraussetzen, bei denen selbst die am besten unterrichteten Personen zu Recht ein ungutes Gefühl beschliche. Vielleicht dürfen wir hoffen, die Erkundung der Alternativen fiele phantasievoll genug aus, um ein einleuchtendes Szenario ausfindig zu machen, das den hervorstechendsten Konkurrenten deutlich überlegen wäre. Das könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn es kluge und überzeugende Vorschläge dafür gäbe, wie Energiequellen, die keine Umweltprobleme mit sich bringen, nutzbar gemacht werden könnten. Ohne ein besonders einleuchtendes Szenario muß sich unsere Spezies eventuell ganz bewußt auf eine Wette einlassen. Vielleicht befinden wir uns in der peinlichen Lage, die William James am Schluß seines Aufsatzes »Der Wille zum Glauben« heraufbeschwört: 5 In einem Schneesturm, der ihm die Sicht nimmt, muß sich der Wanderer für irgendeine Richtung entscheiden, obwohl er sich völlig darüber im klaren ist, daß er vielleicht auf einen Abgrund zugeht.
Auf der vierten und letzten Ebene kommen zu den Erwägungen der dritten Stufe wichtige einschränkende Bedingungen hinzu, die dem Bereich der Ethik und der Gerechtigkeitstheorie entstammen. Die Bürden und die Vorteile bestimmter Reaktionen auf die ansteigende Durchschnittstemperatur unseres Planeten belasten verschiedene Personengruppen in unterschiedlicher Weise. Die Bewohner verschiedener Regionen sind unterschiedlich betroffen. Die Angehörigen von Gesellschaften, die aus früherer Anwendung fossiler Brennstoffe Vorteile gezogen haben, sind anders betroffen als die Angehörigen von Ländern, die noch auf dem Weg zur Industrialisierung sind. Wer heute lebt, ist anders betroffen als die Nachgeborenen. Selbst wenn die Konsequenzen der auf der dritten Ebene entfalteten möglichen Reaktionen völlig klar wären, müßten diese Reaktionen dennoch zunächst einer ethischen Prüfung unterzogen werden, um eine gerechte Behandlung aller Betroffenen zu gewährleisten – und mit »Betroffenen« sind alle Angehörigen unserer Spezies ab heute bis weit in die Zukunft gemeint. Auch wenn man skeptische Bedenken berücksichtigt, denen zufolge ethische Probleme überhaupt nicht lösbar sind, konfrontiert uns die Erderwärmung mit Gerechtigkeitsfragen, die wir Menschen beantworten – und zwar gemeinsam beantworten – müssen.
Hier habe ich die Debatte, die uns die Natur abverlangt, bloß skizziert, ohne auf alle möglichen Überlegungen einzugehen, die bei einer detaillierten Darstellung eine Rolle spielen müßten. Für unser jetziges Anliegen ist eine Skizze jedoch ausreichend. Es geht mir nämlich darum, zu verstehen, inwiefern unsere gegenwärtigen Mißverständnisse der Demokratie und der Anforderungen, die das Engagement für die Demokratie mit sich bringt, die globalen politischen Diskussionen stört, die wir so dringend brauchen.
3.
Überall auf der Welt ist die Beachtung, die dem Klimawandel aus politischer Perspektive geschenkt wird, zurückgegangen. Auch Länder, die sich vermeintlich darauf festgelegt hatten, den Ausstoß von Treibhausgasen ernsthaft zu beschränken, nehmen jetzt Abstand von solchen
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