Wittgenstein
nach der nächsten Kurve, endgültig aus seinem Blickfeld zu verschwinden. In dem kleinen grünen Tal ist jetzt außer ihm keine Menschenseele. Abgesehen von dem Friedhof, den er von weitem sieht, dem Schotterweg, der vielleicht seine neue Adresse werden wird, ein paar Zäunen und den zwei Bänken weist nichts hier auf Menschen hin. Ein leichter, nicht unangenehmer Schwindel überfällt ihn. Er schließt die Augen, und sein Gepäck verschwindet. Es ist, als hätte er sich irgendwo hingekniet, vielleicht in einem Park, vielleicht auf einer belebten Straße, und hätte einen Punkt fixiert, irgendeinen Punkt, der nicht unmittelbar ein Menschenpunkt ist, der etwas anderes ist, und als hätte er seinen Körper an die Bewegungslosigkeit des Punktes angepasst, ganz egal, was um ihn herum passiert, zumindest für diesen Augenblick. Er steht dort und wartet auf gar nichts. Er steht genau dort, wo er steht, und wartet auf rein gar nichts. Ein Bach plätschert vor sich hin. Sein Hals wird trocken, und er räuspert sich. Das krächzende Geräusch aus seiner Kehle erschreckt ihn fast. Er weiß nicht, wie lange er so da gestanden hat. Es könnte eine halbe Stunde gewesen sein, vielleicht aber auch nur fünf Minuten. Seine Kleidung ist nass, aber nicht durchnässt. Er geht zu dem Bach und trinkt, und die Brühe erfrischt ihn tatsächlich. Er ist angekommen.
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Der Himmel hängt tief heute, aber es ist Tag, helllichter Tag. Es ist der Tag von Marcos Ankunft, und es ist wieder Mittag. Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Zeit für Schulkinder, nach Hause zu laufen, schnell zu laufen, unachtsam schnell, um noch vor dem Regen, oder schlimmer, dem Gewitter, anzukommen. Zeit für Mütter, den Kochlöffel aus dem Eintopf zu nehmen und besorgt aus dem Küchenfenster zu blicken.
Es wird kein Halt mehr gemacht, vor nichts mehr. Du legst den Gang ein, lässt die Kupplung kommen und gibst gleichzeitig Gas. Wenn du im dritten Gang angekommen bist, liegen deine Hände locker auf dem Lenkrad. Du kennst hier jeden noch so kleinen Winkel. Um dir in dieser Stadt etwas Neues zu zeigen, müsste man dir eine Lupe bringen. Ob etwas neu ist, hat wenig mit Zeit und viel mit deinem Blick darauf zu tun. Die Stadt interessiert dich schon lange nicht mehr. Nicht, weil zu wenig los ist, sondern viel zu viel. Immer kommt irgendeiner um irgendeine Ecke. Du hast dich auf die Strecken zwischen der Stadt und den sie umgebenden dreiundzwanzig kleinen Dörfchen spezialisiert. Du fährst den Berg hoch, an den fünfstöckigen Häusern vorbei, die man hier Hochhäuser nennt, und über den Berg hinweg, und schon bist du allein. Der Wald, ein paar einzelne Häuser am Straßenrand und Bauernhöfe, die in Kuhlen liegen. Alles Leute, die damit klarkommen, keine Nachbarn zu haben, die nicht den ganzen Tag darauf warten, dass etwas passiert. Die allerbeste Voraussetzung dafür, dass nichts passiert.
Es ist Zeit, die Scheibenwischer anzuschalten, zumindest auf erster Stufe. Ein paar Kurven, und schon bist du im ersten Dorf, jetzt runterschalten in den zweiten Gang. Wenn du laufen würdest, wärst du ein Flaneur. Ein paar alteingesessene Bauernhöfe, daneben spießig-schmucke Neubauten, die eine oder andere Katze, die die Straße vor der Schnauze deines Mercedes überquert, dann wieder nur noch landwirtschaftlich genutzte Landschaft und vereinzeltes Vieh. Noch einen Kilometer bis zum nächsten Dorf. Die Landschaft ist deine Landschaft. Im Grunde gibt es nur die eine. Es ist nicht, als wärst du nie am Meer gewesen oder in den Alpen, aber das war eher, als würdest du dir einen Film angucken. Diese Landschaft hier gehört dir. Es ist deine Landschaft. Deine Straße. Die Wiesen mit ihren Kühen und Zäunen, den vereinzelten Bäumen und dem dahinterliegenden Wald. In dem Wald die Rehe und Pilze. Die Leute auf den Straßen. Das alles ist deins, ist ein Teil von dir. Es steckt in dir drin. Wenn du es je rausbekommen wolltest, würdest du sehen, wie schwer das ist, es rauszubekommen. Du kannst sie nicht rausschneiden, die Landschaft. Du kannst kein Messer nehmen, weil du nicht wüsstest, wo du es ansetzen solltest.
Du erkennst bereits den Kirchturm des zweiten Dorfes. Es donnert, Blitze sind nicht in Sicht. Vor dir taucht ein 24er Fahrrad auf, das von einem blauorangen Scout-Schulranzen gefahren wird. Das Fahrrad nähert sich langsam, aber sicher dem unscheinbaren grün-gelben Ortsschild. Du gibst Gas. Dein schwerer Mercedes gehorcht dir aufs Wort. Du schießt die
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