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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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ihren Platz. Das Rascheln der Papiertüte ist noch zu hören und sonst nichts mehr.
    »Ich hätte dir schon keins abgenommen«, murmelt er und dreht sich wieder herum. Bad Berleburger sind geizig und schreckhaft. Wenn sie nach einem Puddingteilchen gefragt werden, verschwinden sie meistens. Selbst wenn sie nicht nach einem Puddingteilchen gefragt werden, kann es passieren, dass sie verschwinden. Immerhin heißen sie Anreisende willkommen. »Die Perle Südwestfalens.«
    Er braucht zehn Schritte, um die Wartehalle zu durchschreiten, und kann zur Belohnung seine Nase an die Glastür drücken. Der Regen trommelt auf den kleinen Bahnhofsvorplatz, wo zwei Taxis reglos stehen. Wegen des Lichteinfalls kann er nicht sehen, ob sich jemand hinter den Windschutzscheiben befindet, ebenso wenig hinter den getönten Scheiben der Kneipe und der Pizzeria gegenüber.
    Der erste Eindruck ist immer wichtig. Er könnte sich umdrehen, zurück auf das Gleis gehen und auf den nächsten Zug in die nächste größere Stadt warten, so wie man das Licht wieder ausknipst, wenn einem nicht gefällt, was man sieht. Aber das tun die wenigsten, außerdem hat er hier und nirgendwo sonst etwas geerbt. Marco H. atmet die leicht abgestandene Luft der Wartehalle noch einmal bewusst ein, stößt die Tür auf und steigt in das vordere der beiden Taxis.
    »Guten Tag! In der Hole 3«, sagt er und nimmt auf der Rückbank Platz. Der Fahrer legt seine große behaarte Hand auf die Nackenstütze des Beifahrersitzes, dreht sich zu ihm um und blickt ihn verständnislos an. »Die Adresse! Da wo ich hin will. In der Hole 3«, wiederholt Marco H. »Wo soll'n das sein, hier in der Stadt?«, fragt der Fahrer mit einer Stimme, die sehr gut zu seinem angegrauten Bart und der karierten Mütze auf seinem Kopf passt.
    »Nein, in Schüllar, tut mir leid! In der Hole, in Schüllar.«
    »In Schüllar? Na, dann werden wir es schon finden«, meint der Fahrer grinsend und lässt den Motor an.
    In Schüllar gibt es einen Dorfplatz, wo sich zwei der drei offiziellen Straßen des Dorfs kreuzen. Dieser Platz hat keinen Namen, aber es gibt dort eine Teppichstange. Deshalb sagen die Leute des Dorfs »An der Teppichstange«, wenn sie von ihrer wichtigsten Kreuzung sprechen. Das Taxi hält »An der Teppichstange«. Der Bergesweg, der als Polizeiweg den unteren Teil des Berges erklimmt und sich erst auf halber Strecke zum Gipfel Bergesweg nennen darf, trifft hier auf den Toresweg, der von einer anderen Seite nach oben führt. Schüllar ist ein Bergdorf. Ein Mittelgebirgsbergdorf, aber immerhin. Er ist beeindruckt, als er aus dem regennassen Fenster blickt. Große schwarz-weiße Fachwerkhäuser, wie vor langer Zeit auf den Berg gewürfelt. Häuser, die ihre Bewohner nähren und beschützen.
    »Das haben wir gleich.« Der Fahrer steigt aus und läuft, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, durch den Regen zu einem Haus mit einer japanischen Kirsche vor der Haustür.
    »Die Hole scheint direkt dahinter anzufangen«, meint er, nachdem er zurück ins Taxi gestiegen ist, und zeigt mit gekrümmtem Zeigefinger über das Haus mit der japanischen Kirsche. Ohne weitere Erklärung dreht er den Wagen und fährt den Bergesweg-Polizeiweg wieder hinunter auf die Hauptstraße in Richtung Bad Berleburg. Nach nur zwanzig Metern auf der B525 biegt er rechts in einen zwar asphaltierten, aber sehr schmalen Weg ab. Linker Hand fahren sie an einem kleinen Friedhof vorbei. Rechts von ihnen sehen sie den Berg, auf und an dem Schüllar liegt. Nach zweihundert Metern hält das Taxi erneut. Zuerst versteht er nicht, warum, er sieht nur Wiesen und ein paar Zäune und zwei Bänke.
    »Da komm ich mit dem Taxi nicht hoch, die letzten Meter müssen Sie gehen.«
    Marco H. folgt der Hand des Fahrers, und es dauert einen Moment, bis er erkennt, dass zwischen den Bäumen rechts ein Weg aus Geröll und Matsch den Berg hinaufführt.
    »In der Hole« scheint keine Straße im eigentlichen Wortsinn zu sein, eher ein Fußweg. Er zahlt, schnappt sich das Gepäck und steigt aus. Der Regen fühlt sich ganz angenehm an. Nicht zu stark, aber auch kein schwacher Nieselregen, von dem man nicht weiß, ob er je wieder aufhört. Er bleibt neben dem Wagen stehen und schaut dem Wendemanöver zu. Der Fahrer, Ober- und Unterlippe eingeklappt, tippt nach gelungener Wende nickend an seine karierte Mütze und fährt los. Das Taxi taucht hinter den ersten Hügeln ab und kurze Zeit später auf Höhe des kleinen Friedhofs wieder auf, um schließlich,

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