Wittgenstein
Landstraße entlang, was in der Gegend keine Besonderheit ist. Hundert sind erlaubt, und hundert fährt man. Unfälle passieren zuhauf, aber nicht dir. Du hattest in all den Jahren noch keinen nennenswerten Unfall. Wenn du eines kannst, dann ist das Auto fahren, zumindest in dieser Gegend und mit diesem Auto. Es hat dich noch nie im Stich gelassen. Aber du hast schließlich auch die Voraussetzungen dafür geschaffen. Regelmäßige Inspektionen und frühzeitiger Ersatz von Verschleißteilen sind das A und O. Da fährt so ein 350 SE ewig. Den Spritverbrauch und die Steuern nimmst du in Kauf, das ist er dir wert. Das Kind hat deinen Wagen gehört und sich kurz umgedreht, dadurch ist es ein wenig ins Schleudern geraten, hat aber das Fahrrad sofort wieder in den Griff bekommen. Es blickt nach vorn und sieht das Ortsschild ein paar Meter vor sich. Wird es vor dir am Ortseingang sein? Sein Hintern hebt sich vom Sattel, und es tritt kräftiger in die Pedale. Das Fahrrad wackelt hin und her. Die Ernsthaftigkeit, mit der das Kerlchen dieses Rennen fährt, verengt seine Augen zu kleinen, grimmigen Schlitzen.
Du siehst die Straße und das Orange im Blau des Ranzens. Das Orange ist dazu da, gesehen zu werden, man soll achtgeben darauf. Achte auf das Orange! Es breitet sich aus, wird immer größer, und man könnte meinen, es würde dein gesamtes Sichtfeld einnehmen wollen. Und beinahe hat es das, wie du so darauf zufährst, als gäbe es nichts anderes mehr, als führest du mit deinem blassen, olivgrünen Mercedes durch ein orangefarbenes Nichts. Doch dann musst du dich zwingen, einer Bewegung zu folgen, die sich dir von der Seite aufdrängt. Vorn links, zwischen dem Wagen und dem Schulranzen, trifft ein Feldweg, der zwei Wiesen durchschneidet, auf die Hauptstraße. Aus dem Augenwinkel siehst du einen dieser kleinen alten Trecker näher kommen, die kaum noch einer der Bauern heutzutage fährt, jedenfalls keiner, der das Geld hat, in seinen Betrieb zu investieren. Du siehst sogar jemanden auf dem alten roten John-Deere-Trecker sitzen. Und wenn man jemanden sieht, wird man meistens selbst gesehen, es sei denn, man ist gut versteckt. Also bremst du ab und lässt das Kind gewinnen, alles andere wäre Wahnsinn.
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Marco H. liegt in seinem neuen Haus, das nach den notwendigen Formalitäten in sein Eigentum übergegangen ist, und baut einen unbekannten Ton in einen Traum ein, an den er sich nicht mehr erinnern wird, nachdem der Ton erst einmal überhandgenommen und ihn geweckt hat. Im Traum fliegt er mit seinen Eltern an einen Ort, an dem er eine Unterrichtsstunde halten soll. Er ist Lehrer. Seine Eltern sind gut gelaunt, und er hört sie hinter sich kichern wie zwei Schulkinder. Er selbst ist aufgeregt, umso mehr, als das Flugzeug keinerlei Anstalten macht, demnächst zu landen. Seine Unterrichtsstunde in einem ihm leider unbekannten Fach beginnt pünktlich um 8 Uhr, also in zwei Minuten. Als er seine Eltern wiederholt auf seine prekäre Situation hinweist, klopft ihm der Vater beruhigend auf die Schulter und deutet mit zitterndem Zeigefinger auf die Uhr, die mittig über dem Bereich hängt, wo die Stewardessen verschwinden und wieder auftauchen. Die Zeiger der Uhr laufen rückwärts. Er hat noch drei Minuten, fünf Minuten, elf Minuten. Er hat Zeit! Erleichtert stellt er die Rückenlehne seines Sitzes nach hinten. Die Sitzreihe hinter ihm ist frei. Überhaupt scheint er der einzige Fluggast zu sein. Ein Blick auf seine Füße genügt, um zu erkennen, dass er keine Schuhe trägt, sondern die dunkelblauen Frotteesöckchen von British Airways, die man nur auf Langstreckenflügen bekommt. Die Frotteesöckchen verstärken das Gefühl der Behaglichkeit, in dem sein gesamter Körper badet. Er hat Zeit! Alle vier Minuten, die ihm die Uhr schenkt, kommt eine der Stewardessen, eine schöne Vietnamesin namens My, hinter dem Vorhang hervor und läutet ein Glöckchen. Alle vier Minuten wird das Glöckchen lauter. Mit jedem Glöckchenschlag kommt ihm My ein Stück näher. Durch die schmale Lücke zwischen ihren oberen Vorderzähnen weht ihm ein süßer Duft entgegen.
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Sein Wohlbefinden in dem immer bequemer werdenden Sessel wird einzig durch das Glöckchen getrübt. Irgendwann steht Mys lächelnde Gelassenheit in direktem Gegensatz zum klirrenden Ton des Glöckchens in ihrer rechten Hand, und irgendwann fällt ihm auf, dass ihr Kopf zuerst unmerklich, dann doch beträchtlich anschwillt. Vor seinen so erstaunten wie
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