Wittgenstein
lassen. Wie der Fahrer zögert Marco H. einen Augenblick, bevor er hineingeht. Die Heftigkeit des elektrischen Lichts hält ihn eine weitere Sekunde auf der Schwelle fest, bis er leise, aber bestimmt die Tür hinter sich schließt. »Ich bin da!«, sagt er nicht laut genug, um im ganzen Haus gehört zu werden. Er steht im Flur und bekommt keine Antwort. Dann räuspert er sich und versucht es erneut, etwas lauter:
»Ich bin da! Das hier ist mein Haus. Was wollen Sie hier?« Offenbar nichts, was mit Worten funktioniert. Er geht langsam durch den Flur und hat dabei die erste Entscheidung getroffen: Der Fahrer muss sich im unteren Stockwerk aufhalten. Er ist nur nach oben gegangen, um alle Räume zu inspizieren und die Fenster zu öffnen, dann ist er die Treppe wieder nach unten gestiegen, um hier im Erdgeschoss irgendwo auf ihn zu warten. Im Haus weht ein eisiger Wind. In den hell erleuchteten Räumen ist die Kälte besonders unangenehm. Dunkelheit und Kälte lassen sich zusammen besser ertragen. Erst im Licht spürt er, wie die eiskalte Feuchtigkeit seiner Kleidung langsam in seinen Körper eindringt. Er muss sich beeilen, die Zeit ist nicht auf seiner Seite. Aber er sollte seine Schritte auch langsam und mit Bedacht setzen und darf nichts überstürzen.
Im grünen Zimmer ist niemand. Der Wind spielt mit den dunkelgrünen Vorhängen und bewegt ein paar Blätter der zähen Pflanzen, die nicht nur Emmas Tod, sondern auch seine dilettantische Pflege überlebt haben. Er schließt leise das Fenster und blickt sich um. Eine Schranktür steht einen Spaltbreit offen. Er könnte hingehen und nachschauen, aber trifft dann eine weitere Entscheidung: Der Fahrer hat sich nicht versteckt. Er muss niemanden suchen. Der Fahrer sitzt irgendwo im Haus und wartet auf ihn, als seien sie verabredet. Niemand wird ihn von hinten angreifen. Zwar besteht die Möglichkeit, aber nur, weil sie immer besteht, sobald er sich mit dem Rücken von einer Wand entfernt. Durch die hohe Wahrscheinlichkeit, mit der sich der Fahrer in seinem Haus befindet, wird ein Hinterhalt nicht etwa begünstigt, sondern im Gegenteil praktisch ausgeschlossen. Er löscht im grünen Zimmer das Licht, schließt die Tür hinter sich und geht weiter.
Der Fahrer sitzt auf dem blauen Sofa im roten Zimmer. Aus seinem Mund kommt Rauch, als Marco H. in der Türschwelle erscheint. Er hat sich ein Bier aus dem Kühlschrank genommen und prostet ihm lächelnd zu, als würde ihm die Kälte nichts ausmachen.
»Ich war so frei«, sagt er und deutet auf die Flasche.
»Raus hier! Verschwinde!« Seine Stimme klingt schriller als beabsichtigt.
»Alles zu seiner Zeit. Was war denn eben los mit dir, ein bisschen nervös, was? Da will man dich mitnehmen, und du springst die Böschung runter. Junge, Junge, vor mir brauchst du doch keine Angst zu haben.« Der Fahrer nimmt die Füße vom Tisch und drückt ganz nebenbei seine Zigarette auf der Sofalehne aus. Er hat kurz darüber nachgedacht, den Tisch umzustoßen, sich dann aber für die Zigarette entschieden. »Was ist los mit dir, ich dachte, wir sind Kollegen, Mann? Mir ist ja schon viel passiert in meinem Leben, aber dass einer mich abhört, einer, dem ich vertraue, das ist mir neu. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie ich reagieren soll. Was würdest du an meiner Stelle machen?«
»Du hast diese Leute absichtlich überfahren. Du bist ein Mörder!«
»Ich bin was? Wen soll ich überfahren haben?«
»Die Toten nachts auf der Straße. Das warst du.«
»Du spinnst doch. Du hörst uns ab und besitzt auch noch die Frechheit, mich zu beschuldigen, ich hätte Leute überfahren? Un-glaub-lich! Wie kommst du darauf? Aber das erklärt natürlich einiges. Ich habe niemanden überfahren. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten dich unsere lieben Kollegen schon vor ein paar Tagen fertiggemacht, darauf kannst du Gift nehmen. Dass du hier unversehrt und gesund vor mir stehst, verdankst du mir, mein Lieber.« Der Fahrer schüttelt den Kopf und nimmt einen weiteren Schluck aus der Flasche. Er schaut sich das Etikett an:
»Cheval Blanc, ist übrigens lecker. Lange nicht mehr so ein gutes Bier getrunken. Lässt sich sein Bier aus Kanada kommen, nicht schlecht für eine Telefonhilfskraft!« Er schaut wieder auf. Marco H. steht immer noch, nur wenige Schritte von ihm entfernt, im Türrahmen.
»Also gut, du hast keine Ahnung! Du weißt überhaupt nichts! Du bist eine beschissene kleine Telefonhilfskraft, schon vergessen? Kannst du überhaupt Auto
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