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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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fahren? Was weißt du, wie schnell so was gehen kann? Mit Absicht ist da nichts zu machen. Der Erste war ein Unfall. Ich kann es gar nicht absichtlich getan haben. Ich habe ihn erst gesehen, als es zu spät war. Habe einfach ein bisschen vor mich hin geträumt. Du drehst das Lenkrad ein paar Zentimeter nach rechts, und schon ist es passiert. Ich fahre jeden Tag Auto, jeden verdammten Tag. Da dreht man einmal das Lenkrad ein paar Zentimeter zu weit nach rechts, und schon ist man der Bösewicht. Dann der Opa, der ist mitten auf der Straße gelaufen, ich habe ihn einfach zu spät gesehen. Es hat geregnet, ich war in Gedanken, du weißt doch, wie das ist. Und mit der Frau im Herbst habe ich nichts zu tun, das war ein anderer, das muss ein anderer gewesen sein, ich kann mich nicht daran erinnern. Absicht? Tsstss!«
    »Du meinst Kerstin Kringe. Das bist ebenfalls du gewesen, und dabei hat dich sogar jemand gesehen. Oder was glaubst du, warum Claudia nicht mehr bei euch in der Zentrale vorbeikommt? Sie war dabei, als du Kerstin Kringe überfahren hast. Sie hat daneben im Gras gehockt und es gesehen. Wenn sie sich nur ein wenig besser verständlich machen könnte, hätte man dich schon längst weggesperrt, du Schwein!«
    Der Fahrer schaut auf seine matschigen Stiefel und schüttelt wieder den Kopf. Er muss ein Kichern unterdrücken, als ob etwas an seinen Stiefeln oder auf dem Teppich besonders lustig wäre. Auch wenn er dagegen ankämpft, ein paar Töne kommen trotzdem raus.
    »Du liebe Güte! Das hat Claudia dir erzählt? Was genau war ihr Wortlaut? Etwa so: Hmphlsdfsdahfwfn?«
    Die eigenen Geräusche findet er so lustig, dass er gegen einen kurzen heftigen Lachanfall nichts ausrichten kann, danach ein paar Grunzer von sich gibt und ein wenig auf dem Sofa auf und ab hüpft. Bis er sich wieder beruhigt, dauert es eine Weile.
    »Da habt ihr mich aber auf frischer Tat ertappt, ihr zwei.« Er stößt einen affektiert lauten Seufzer hervor, lehnt sich zurück, faltet die behaarten Hände über der Brust und blickt sich demonstrativ im Raum um. »Wer hätte gedacht, dass ich mal bei einer unserer Telefonhilfskräfte im Wohnzimmer sitze?«
    Marco H. sollte den Fahrer nicht aus den Augen lassen, aber aus Gewohnheit blickt er rüber zur Wand, an der die drei Fotos kleben. Ihr Kind schläft so sanft wie immer. Die dreißigjährige Emma scheint in der Zwischenzeit den einen oder anderen Schritt getan zu haben. Mit dem immer gleichen Lächeln in ihren Augen ist sie der Kamera näher gekommen. Sie weiß Bescheid. Von Anfang an wusste sie Bescheid. Von diesem Mann fotografiert zu werden hat sie vor langer Zeit zu einem Gespenst gemacht. Marco H. hat ihr die ganze Zeit über dabei zugeschaut, wie sie dem Tod ins Gesicht blickt, ihn sogar anstrahlt. Wenn ihm das keinen Mut macht, was kann ihm überhaupt noch Mut machen?
    »Warum hast du deine Karre nicht einfach irgendwann gegen einen Baum gesetzt? Warum müssen andere leiden?«
    »Leiden und warum?« Der Fahrer atmet tief ein und gelangweilt, mit flatternden Lippen, wieder aus.
    »Mein lieber Junge, so hat die Welt noch nie funktioniert. Worte vielleicht, aber nicht die Welt. Du kannst hinter alles ein Fragezeichen setzen, das bedeutet gar nichts. Was bekämst du schon mehr als weitere Worte? Aber so funktioniert das nicht. So tust du nicht mal einer Fliege was zuleide. Da kannst du so lange um den heißen Brei reden, wie du willst, das bringt dich nicht weiter. Aber du kommst sowieso nicht mehr weiter. Du bist hier in der Hole, schon vergessen, das hier ist noch nicht mal Schüllar, das hier gehört eigentlich gar nicht zu Schüllar. Du lebst im Nirgendwo. Hier treiben die Bauern nicht mal mehr ihre Kühe durch, aus Angst, die würden sich die Beine brechen bei der Kraxelei. Das hier ist so eine Art Zwischenwelt. Da muss erst was passieren, bevor jemand sich die Mühe macht, runterzukommen. Was meinst du, in was für einem Zustand sie deine Großtante hier gefunden haben, he? Die war bestimmt schon seit ein paar Wochen hinüber. Wahrscheinlich kein schöner Anblick, hat sicherlich auch nicht besonders gut gerochen. Wie hast du den Gestank eigentlich rausgekriegt? Bevor es nicht zu spät ist, kommt keiner hier runter, darauf kannst du wetten. Dein Häuschen ist ein Auto ohne Räder. Du hängst zwischen A und B, da, wo alles passieren kann, ohne dass irgendeiner sich einen Dreck darum schert. Schrei doch mal, mach doch! Du wirst sehen, nichts passiert.«
    Ein rein rhetorischer Vorschlag.

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